KOLUMNE – GEDANKENREISE - Luftlinie
11.09.2020 KolumneLuftlinie
Was für eine Schweiz! Sie ist ja nicht gross, aber trotzdem weitläufig und vielfältig. Wenn man sie erkunden will, findet man problemlos Regionen mit spezieller Vergangenheit, Dörfer mit eigenwilligen Bräuchen und faszinierende Persönlichkeiten. Es gibt ...
Luftlinie
Was für eine Schweiz! Sie ist ja nicht gross, aber trotzdem weitläufig und vielfältig. Wenn man sie erkunden will, findet man problemlos Regionen mit spezieller Vergangenheit, Dörfer mit eigenwilligen Bräuchen und faszinierende Persönlichkeiten. Es gibt packende Naturschönheiten, engagierte Menschen, Spuren aus vielen Jahrhunderten und alle möglichen Überraschungen. Trotzdem passiert es mir immer wieder: Ich entdecke ein Stück Schweiz, das ich noch nie besucht oder so noch nicht gekannt habe. Gerade diesen Sommer habe ich mich gewundert über den Reichtum in Evolène im Walliser Val d’Hérens. Damit meine ich nicht Geld und Gut, darüber habe ich nichts erfahren. Ich meine die wunderbaren Gletscher und Gletscherlandschaften, die schroffen Gipfel, die herrliche Fauna und Flora, die reiche Geschichte und die faszinierende Architektur.
Zwar habe ich vor vielen Jahren einmal ein Buch von Marie Métrailler gelesen. Seit damals sind mir Evolène und das Val d’ Hérens ein Begriff. Auch ohne Besuch habe ich diese starke Frau, ihre Geschichte und ihr Tal nicht vergessen. Trotzdem war ich erstaunt, dass eine Region, die kaum 60 Kilometer Luftlinie von meinem Wohnort entfernt liegt, derart anders sein kann. Die Familiennamen sind neu für mich. Anzévui? Pralong? Beytrison? Nie gehört. Die Ortschaften, Flurnamen und Gipfel rund um Evolène sind mir unbekannt. Lanna, Volovron, Les Flantses, La Cliéva d’Amoun, Pointe du Tsaté, Couronne de Bréonna, Veisivi? Keine Ahnung, wie man das ausspricht. Die Häuser sehen ebenfalls ganz anders aus als ich es gewohnt bin. Sie sind mehrstöckig, manche von ihnen bestehen zur Hälfte aus Holz und zur anderen Hälfte aus Stein. Sie wirken trotz ihres oft stolzen Alters eigenartig modern. Sogar die Neubauten passen gut ins Dorfbild. Bausünden aus den letzten Jahrzehnten und lieblose moderne Betonklötze sieht man fast nirgendwo.
Auch vom Patois, das in Evolène immer noch gesprochen wird, verstehe ich kein Wort. Vor 200 Jahren war es offenbar die Hauptsprache der Menschen zwischen Grenoble und Freiburg, dem Neuenburger Jura und dem Aostatal. In der Schweiz ist es jedoch durch das Französische verdrängt worden und wird nur noch von einer kleinen Minderheit als Muttersprache gesprochen, unter anderem im Val d’Hérens. Gerade mit der Einführung der Schulpflicht ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging das Patois rasant zurück, denn Französisch war Unterrichts sprache. Kinder, die Patois sprachen, wurden bestraft. Patois galt als bäurisch und hinterwäldlerisch, während Französisch als die Sprache der Gebildeten angesehen wurde.
Zurück zu Marie Métrailler, die von 1901 bis 1979 in Evolène lebte. Als ältestes von sechs Kindern übernahm sie schon früh viel Verantwortung. Mit 15 Jahren verliess sie die Schule, um zu arbeiten. In einem Umfeld, in dem es praktisch keine Selbstständigkeit für Frauen gab und die lokale Wirtschaft aus Landwirtschaft bestand, eröffnete sie 1938 eine Weberei, die über 40 Jahre lang bestand. Bis zum Zweiten Weltkrieg waren Kleidung und Stoffe in den Familien aus einheimischer Wolle und Hanf hergestellt worden. Mit ihrer Firma begann Marie Métrailler, diese Heimarbeit in wertvolles lokales Handwerk zu verwandeln. Sogar französische Modehäuser bestellten Waren, und Touristen auf der Durchreise kauften Stoffe, Vorhänge sowie Bettdecken. Der Erfolg ihrer Produktion ermöglichte es ihr, ein Geschäft an der Hauptstrasse des Dorfes zu eröffnen und zeitweise bis zu 250 Personen in der Weberei zu beschäftigen. Das verdiente Geld war für viele Familien ein wichtiges zusätzliches Einkommen und für die Frauen ein erster Schritt in Richtung Emanzipation.
Wie gesagt, weit weg ist es nicht, und eigentlich ist es auch noch nicht so lange her …
SABINE DÄNZER
SABINE.DAENZER@DAENZER.CH