Rekorde dank Corona und Handy-App
29.09.2020 GesellschaftSeit 150 Jahren werden in der Schweiz Postkarten verschickt. Einst waren sie ein kostengünstiges Medium zum Überbringen von Mitteilungen – inzwischen haben handgeschriebene Karten Seltenheitswert. Dafür boomt der Versand via Smartphone.
KATHARINA WITTWER
Am 26. ...
Seit 150 Jahren werden in der Schweiz Postkarten verschickt. Einst waren sie ein kostengünstiges Medium zum Überbringen von Mitteilungen – inzwischen haben handgeschriebene Karten Seltenheitswert. Dafür boomt der Versand via Smartphone.
KATHARINA WITTWER
Am 26. Januar 1869 wurde in Österreich die erste «Korrespondenzkarte» verschickt. Das Bedürfnis, zu einem günstigen Tarif kurze Mitteilungen zu verschicken, war auch in der Schweiz vorhanden. 1870 erteilte das Parlament der Post die Erlaubnis, ab dem 1. Oktober gleichen Jahres «Cartes Correspondances» herauszugeben und zu spedieren. Das Porto kostete 5 Rappen – einen Zehntel des Preises, der für ein Telegramm anfiel. Andererseits war das Postgeheimnis nicht mehr gewährleistet.
Die frühen Postkarten sahen in ganz Europa ähnlich aus. Das Wertzeichen war aufgedruckt. Je nachdem, in welches Land die Mitteilung verschickt werden sollte, wählte man eine Karte mit der notwendigen Frankatur.
Ansichtskarten als Werbemittel
Als in den 1880er-Jahren die Fotografie so richtig Einzug gehalten hatte und der Tourismus in Schwung kam, veränderte sich die Postkartenlandschaft. Für Hotels und Kurhäuser hatte es eine willkommene Werbewirkung, wenn Gäste Feriengrüsse mit den Abbildungen ihrer Häuser und der schönen Bergwelt in die halbe Welt verschickten. Gleichzeitig erlaubte die Post das Drucken von Ansichtskarten, worauf Postkartenverlage aus dem Boden schossen wie Pilze.
Schon damals wurde fleissig retuschiert, verschönert und «Berge versetzt». Nach wie vor durfte die Vorderseite nur Adresse, Frankatur und Poststempel enthalten. Aus der Not heraus wurden die Mitteilungen auf die Rückseite rund ums Bild gekritzelt. 1905 änderte die Post diese Vorschrift. Seither ist die eine Seite hälftig für Adresse und Text aufgeteilt.
Ein eigenes Format
In ihren Jugendjahren mass die Carte Correspondance etwa 9 x 14 cm. Mitte des letzten Jahrhunderts pendelte sie sich wegen der technisch veränderten Druckverfahren und den in Europa vereinheitlichten Papiermassen auf DIN A6 ein, also auf 105 x 148 Millimeter, auch als «Postkartenformat» bekannt. Später gesellten sich runde, achteckige, übergrosse oder längliche Formate dazu.
Zu einem Massenprodukt mauserten sich Ansichtskarten während des Ersten Weltkrieges. Für die Soldaten boten sie eine erschwingliche Möglichkeit, den Lieben zu Hause ein Lebenszeichen zu übermitteln. Abbildungen von Heiligen oder humoristische Zeichnungen von der Front waren die häufigsten Sujets. Wer bis in die 1970er-Jahre maximal fünf Wörter schrieb, profitierte von einem reduzierten Tarif.
Zwei Verlage im gleichen Dorf
Emanuel Gyger eröffnete 1909 zusammen mit seinem Schwager Hermann Eggimann in Adelboden ein Fotogeschäft. 20 Jahre später schied Eggimann aus und Arnold Klopfenstein wurde neuer Mitinhaber. Ein wichtiges Standbein der Firma Gyger und Klopfenstein waren Postkarten, welche sie von A bis Z selber produzierten. Die beiden unternahmen oft mehrwöchige Wanderungen ins Hochgebirge, wo sie viele Sujets entdeckten und fotografierten. Ihre Vorzeigebücher mit Ansichtskarten waren bei den Wiederverkäufern beliebt, und entsprechend gross fielen jeweils die Bestellungen aus.
Seit der familiären Geschäftstrennung 1959 existieren zwei Kartenverlage im gleichen Dorf. Das Ansichtskartengeschäft teilten sie auf: Klopfenstein übernahm das Wallis sowie Adelboden. Gyger behielt das Berner Oberland. Diese Abmachung ist noch heute gültig. Gyger ist der traditionsreichste Verlag der Schweiz und wird voraussichtlich in den nächsten Jahren an die fünfte Generation übergehen.
Corona brach alle Rekorde
1902 verschickte die Schweizerische Post rund zwei Millionen Postkarten. Während der Hochblüte Anfang der 1990er-Jahre gingen gemäss Bundesamt für Statistik in der Schweiz jährlich rund 57 Millionen Stück über den Ladentisch. Wie viele davon auf dem postalischen Weg spediert wurden, ist nicht bekannt.
Mit dem Smartphone erhielt die papierene Grusskarte plötzlich Konkurrenz. In Sekundenschnelle sind Bilder geknipst und mit wenigen Klicks und gleich massenweise um den Planeten geschickt.
Auch in Adelboden spürt man die sinkende Nachfrage nach «echten» Postkarten. «Falls Kunden Ansichtskarten kaufen, wählen sie emotionale, manchmal witzige Sujets oder Stimmungsbilder», so Peter Klopfenstein, Inhaber des gleichnamigen Geschäftes. Auch Nostalgie sei gefragt und werde reproduziert. Das sind vornehmlich Plakate für Skirennen aus den goldenen 1920er-Jahren oder original Schwarz-Weiss-Aufnahmen aus der gleichen Epoche.
2014 lancierte die Schweizerische Post die «PostCard Creator»-App. Im ersten Jahr wurden darüber 874 000 selbst geschossene Fotos verschickt. Bis vor einem halben Jahr waren es monatlich ungefähr gleich viel, die meisten stets während den Sommerferien. Dann kam Corona, und vieles wurde anders. «Vielleicht verschickten unsere Post-Card-KundInnen Grüsse mit eigenen Fotos, weil man sich nicht besuchen durfte», mutmasst man bei der Medienstelle der Schweizerischen Post. Über die Smartphone-App wurden alleine im April 1 065 590 Postkarten gedruckt und befördert. Allein am 6. April waren es fast 42 000 Stück – das ist bisheriger Tagesrekord.