Vor 125 Jahren brachte der Altelsgletscher Tod und Verwüstung
22.09.2020 Kandersteg, NaturGESCHICHTE Man kann sich kaum vorstellen, dass die inzwischen blanke Flanke der 3629 m hohen Altels bis vor wenigen Jahrzehnten von einem Hängegletscher bedeckt war. «Schuld» an der Veränderung sind zwei Abbrüche und der Klimawandel. Während vom ersten Unglück kaum Aufzeichnungen ...
GESCHICHTE Man kann sich kaum vorstellen, dass die inzwischen blanke Flanke der 3629 m hohen Altels bis vor wenigen Jahrzehnten von einem Hängegletscher bedeckt war. «Schuld» an der Veränderung sind zwei Abbrüche und der Klimawandel. Während vom ersten Unglück kaum Aufzeichnungen vorhanden sind, wird vom zweiten im Kandersteger Heimatmuseum ein Ordner voller Berichte aufbewahrt.
KATHARINA WITTWER
Am 11. September 1895 um etwa 5 Uhr in der Früh löste sich an der Altels (Alt-Els / alter Esel) eine Gletschermasse und riss auf der Spittelmatte 6 Menschen und 169 Tiere in den Tod. Bereits 113 Jahre vorher war ein ähnliches Unglück geschehen, das nebst vielen Tier- auch vier Menschenleben gefordert hatte. Untersuchungen* ergaben, dass die Ursachen der Ereignisse ähnlich waren. Beiden Abbrüchen ging ein (für damalige Begriffe) heisser Sommer voraus, beide Male erstreckte sich die Verheerung über die ganze Alp – und in keinem Fall wurde man vorher auf ein sich anbahnendes Unglück aufmerksam.
Nach der Katastrophe erinnerte sich Gemmiwegmeister Johann Künzi, dass der Bach aus den Tatelen am 10. September ungewöhnlich gross und schmutzig war, der Schwarzbach dagegen völlig normal. Er schenkte dieser Beobachtung jedoch keine besondere Aufmerksamkeit. Nachträgliche Untersuchungen brachten zum Vorschein, dass sich durch die Erwärmung Wasser unter dem Gletscher angesammelt und sich in der Tiefe das Eis vom Felsen gelöst hatte. In den Tagen zuvor hätte man möglicherweise mehrmals das Aufbrechen von Rissen im Eis hören können.
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Die Spittelmatt liegt grösstenteils auf Berner Boden und bildete zusammen mit dem Senntum Winteregg ein grosses, zusammenhängendes Weidegebiet. Die Viehrechte gehören seit jeher mehrheitlich den Wallisern. Bereits Anfang September zogen die Kandertaler Sennen jeweils mit dem Vieh von der Winteregg ins Tal.
In der Spittelmatt-Hütte befanden sich in der Unglücksnacht der Senn Kaspar Jäger, sein Gehilfe Alois Grichting, die Statterbuben Paul Brunner und Alois Roth sowie Joseph Roten, Vize-Präsident von Leukerbad, der mit Helfer Hyacinth Tschopp zur Vorbereitung des Alpazuges heraufgekommen war. Frauen und Kinder hatten mit dem Kleinvieh die Alp einige Tage vorher verlassen. Gemäss Brauch stand der 13. September als Abfahrtstermin fest. Vier Holzfäller aus dem Kandertal hatten am Vorabend im «Schwarenbach» ordentlich gefeiert und blieben gleich dort, statt in die Alphütte zurückzukehren.
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«Schwarenbach»-Serviertochter Margrit Fischer war am frühen Morgen schon auf den Beinen. Aufgeschreckt vom Tosen begab sie sich ins Freie und sah eine Wolke von der Altels ins Tal «hinunterfahren». Weil regelmässig Schnee vom Rinderhorn und der Altels abrutschten, schöpfte sie jedoch keinen Verdacht und ging wieder ihrer Arbeit nach. Auch in Kandersteg und im Gasterntal wurde ein Erzittern der Luft gespürt. Dort schloss man auf ein Erdbeben oder auf eine «gewöhnliche» Lawine.
Ein Arbeiter und eine Touristengruppe waren am frühen Morgen von Kandersteg Richtung Gemmi unterwegs. Sie alle gerieten in einen Regenschauer aus geschmolzenem Eisstaub. Kurz vor Sunnbüel fanden sie alles weiss überzuckert vor, und viele Äste lagen am Boden. Sie müssen wohl umgekehrt sein. Dass jemand von ihnen Meldung erstattet hätte, ist allerdings nicht überliefert.
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Der mondsichelähnliche Abriss mit einer Bogenlänge von 950 Metern und einer Abbruchdicke von etwa 30 Metern war von weit her sichtbar. Berechnungen ergaben eine Gletscher- und Gesteinsmenge von 4,5 Millionen Kubikmetern. Die Masse muss mit 60 Metern pro Sekunde hinuntergedonnert sein und benötigte bloss eine Minute, bis sie das 1140 Meter tiefer gelegene Tal erreichte. Sie wurde an die gegenüberliegende Felswand und von dort zurückgeschleudert. Der dabei entstandene Luftdruck vernichtete jegliches Leben, die Arvenwälder wurden «umgemäht», die Hütten zerschmettert und weggefegt. Die Abbruchmasse bedeckte eine Fläche von gut einem Quadratkilometer und war stellenweise bis zu 10 Meter dick. Material wurde bis ins Gasternholz und ins Ueschinental katapultiert.
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Bei Tagesanbruch schickte die Wirtin des «Schwarenbach» je einen Boten nach Kandersteg und auf die Gemmi, um die Schreckensmeldung zu überbringen und Hilfe zu holen. Auf der Berner Seite wollte man dem verdatterten Tschadi Trachsel erst nicht glauben, wie dramatisch die Lage war. Doch den Helfern bot sich ein schreckliches Bild. Oben angelangt, standen sie vor einer hohen Wand. Bevor sie zu den vermeintlichen Standorten der Hütten vordringen konnten, mussten sie sich eine Wegspur bahnen. Zwischen Eisund Gesteinsblöcken fanden sie Holz von den Hüttenwänden und den Dächern, Käselaibe, Hausrat, entwurzelte Arven sowie menschliche und tierische Leichenteile. Alles war vom Luftdruck zerrissen und weggeschleudert worden. Die Leichen der vier Männer wurden bereits am ersten Tag gefunden und auf die Gemmi getragen. Die sterblichen Überreste der Statterbuben kamen erst im drauffolgenden Sommer zum Vorschein.
Einige der arg entstellten Kadaver der insgesamt 158 Rinder, 9 Schweine, 1 Maultier und 1 Hund wurden im gleichen Herbst gefunden. Andere waren von der Druckwelle an die Felswände des Ueschinengrates katapultiert worden und dort angefroren. In den folgenden Tagen schmolzen sie weg und purzelten zu Tale. Viele tierische Überreste wurden erst im nächsten Sommer vom geschmolzenen Eis freigegeben. Auf eine Beschreibung, wie und unter welchen Umständen Kandergrunds Wasenmeister und seine Helfer die Kadaver vorfanden und verscharrten, wird an dieser Stelle verzichtet.
Die Druckwelle zerstörte auch einen 20 Hektar grossen Arven- und Lärchenwald mit bis zu 300-jährigen Baumriesen. Es dauerte fünf Jahre, bis alle Eisbrocken geschmolzen waren. Zur Aufrechterhaltung der touristisch erschlossenen Gemmi wurde der Weg teilweise verlegt. Die Spittelmatt- und Winteregghütte wurden ausserhalb der Gefahrenzone neu aufgebaut. In mühseliger Arbeit musste und muss das Weideland nach wie vor von Steinen gesäubert werden.
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Zeitungen im ganzen Land schrieben über die Naturkatastrophe, die Anteilnahme für die betroffenen Familien war gross. Die Behörden der Kantone Bern und Wallis taten ihr Möglichstes, den Schaden zu begrenzen. In Frutigen bildete sich rasch ein Hilfskomitee, der SAC und die «NZZ» nahmen Spenden entgegen. So kamen Geld- und Naturalien in beachtlicher Höhe zusammen.
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Im August 1927 wurden erneut Risse im Altelsgletscher beobachtet. Aus Angst vor einem weiteren Abbruch verliessen Menschen und Tiere fluchtartig die Alp. Nach der Begehung von Fachleuten wurde jedoch Entwarnung gegeben. Passiert ist glücklicherweise nichts. Wer heute die blanke Westflanke der Altels anschaut, kann sich kaum vorstellen, welch Unheil der einstige Gletscher anrichtet hat.
* Quellen
• Aufzeichnungen von Jakob Reichen um 1930 nach Erzählungen seines Vaters Gilgian Reichen, der Oberwegmeister im Kandertal war und die Bergungs- und Räumungsarbeiten leitete
• Untersuchungen des damals führenden Geologen Prof. Dr. Albert Heim und Kollegen im Auftrage der Gletscherkommission der Schweizerischen naturforschenden Gesellschaft