FROM THE OTHER SIDE - Die Sache mit der Bürokratie
24.11.2020 KolumneDie Sache mit der Bürokratie
Vor vielen Jahren habe ich, damals noch Mitglied der Redaktion, in einem Schlusspunkt auf der letzten Seite über die Absurdität italienischer Bürokratie geschrieben. Ich hatte damals meinen Vater in den Justizpalast in Genua begleitet – er ...
Die Sache mit der Bürokratie
Vor vielen Jahren habe ich, damals noch Mitglied der Redaktion, in einem Schlusspunkt auf der letzten Seite über die Absurdität italienischer Bürokratie geschrieben. Ich hatte damals meinen Vater in den Justizpalast in Genua begleitet – er hatte eine Charakterreferenz ins Italienische übersetzt und musste sie offiziell beglaubigen lassen. Das Hin und Her im labyrinthischen Gebäude, das Nicht-zuständig-sein-Wollen der Beamten, der Eintrag der Transaktion in ein massives Buch inklusive handgeschriebener Quittung sowie die Bezahlung durch Marken, die im Kiosk erstanden werden mussten, erschienen mir damals symptomatisch für den italienischen Staat und seine grösseren und kleineren Versäumnisse.
Als Schweizerin ist man ja besonders verwöhnt, was den reibungslosen Ablauf bürokratischer Prozesse anbelangt. Und viele werden jetzt lachen und sagen: «Reibungslos – von welcher Schweiz spricht die Autorin nur?» Wir beklagen uns gerne über die Regeln, die (zu) vielen Beamten und was sie uns kosten, aber: Das System funktioniert im Grossen und Ganzen und es funktioniert ohne grössere Wartezeiten. Zur Veranschaulichung ein paar Vergleiche hier und dort:
• Während die Amerikaner über die Zulässigkeit der Briefwahl diskutieren (nett gesagt), kriege ich mein Abstimmungsmaterial vier Wochen vor dem Termin ans andere Ende der Welt zugestellt. Schicke ich es mit der normalen Briefpost zurück, kommt es nicht rechtzeitig an – die australische Post ist dermassen auf ein Minimum reduziert (sparen, sparen, sparen), dass ein normaler Brief in die Schweiz oft Wochen braucht. Ich besorge mir jetzt jedes Mal einen sogenannten «registered letter» für Dokumente – kostet $27, wird aber hoffentlich prioritär behandelt.
• In Australien gibt es kein Einwohnerregister. Für alles muss man sich separat registrieren: fürs Wählen, für die Medicare Card, für den Führerausweis und für alle anderen staatlichen Dienstleistungen. Und weil das Mietrecht quasi inexistent ist, ziehen gerade die Jungen oft alle sechs bis zwölf Monate um – jedes Mal muss man die neue Adresse mitteilen. Immerhin, manches lässt sich inzwischen online erledigen. Für anderes muss man persönlich auf dem Amt erscheinen – und wer nicht mindestens 30 Minuten vor der angegebenen Öffnungszeit in der Schlange steht, wartet oft den halben Tag. In der Schweiz hingegen ist mit dem Gang aufs Einwohneramt alles erledigt.
• Auf jedem australischen Amt muss man sich mit 100 Punkten ausweisen. Der Pass zählt oft nur 60 bis 70 Punkte, man braucht deshalb auch noch den Führerschein (20 bis 30 Punkte), und irgendeinen offiziellen Brief mit der Wohnadresse (zum Beispiel von der Bank oder dem Gasanbieter). Hat man keinen Führerschein, wird es schon schwierig. Jetzt stellen Sie sich vor, in der Schweiz müsste man jedes Mal mit einem Stapel Dokumente auftauchen, nur um sich auszuweisen – die meisten SchweizerInnen kramen ihren Pass schliesslich nur für Fernreisen hervor. Eigentlich, so dachte ich, wäre die Schweiz ausserordentlich gut für eine Pandemie gerüstet. Und theoretisch ist sie das auch: funktionierende Institutionen, grundsätzliches Vertrauen in die Obrigkeit, exzellentes Gesundheitssystem. Plus eine Bevölkerung, die verhältnismässig fit unterwegs ist. Nun, so dachten wahrscheinlich viele. Und es war falsch. Die Schweiz mag in vielerlei Hinsicht ein Sonderfall sein, in der Pandemie ist sie keiner mehr. Bürokratie hin oder her.
Genug gepredigt – und zwar nicht nur für heute. Das war meine letzte Kolumne für den «Frutigländer». Merci und Adieu!
SANDRA BUOL
BUOL.SANDRA@GMAIL.COM