EIN HARMLOSER ZIMMERMANN
Bei meiner Grossmutter im Schlafzimmer hing jahrzehntelang ein Jesusbild. Der Heiland trug darauf eine Art Nachthemd, einen gepflegten Bart und schulterlanges, dunkelblondes Haar. Melancholisch und ein bisschen verträumt blickte er aus seinem ...
EIN HARMLOSER ZIMMERMANN
Bei meiner Grossmutter im Schlafzimmer hing jahrzehntelang ein Jesusbild. Der Heiland trug darauf eine Art Nachthemd, einen gepflegten Bart und schulterlanges, dunkelblondes Haar. Melancholisch und ein bisschen verträumt blickte er aus seinem goldenen Bilderrahmen.
So ein sanftmütiger Gottessohn hat Vorteile. Er stellt keine Ansprüche, tut niemandem weh und bringt ein bisschen Farbe in die gute Stube. Fast könnte man fragen, warum die Römer diesen harmlosen Zimmermann eigentlich hingerichtet haben.
Ganz einfach: Weil er vermutlich nicht der Softie war, der bei meiner Grossmutter an der Wand hing. Der irdische Jesus war ein Unruhestifter. Was er predigte, hatte das Potenzial zum Umsturz. Die Letzten werden die Ersten sein. Die Wohlhabenden sollen arm werden – den Armen aber gehört das Reich Gottes. Radikaler geht es kaum. Wie viel von diesem antiken Störenfried noch in den heutigen Volkskirchen steckt, mag jeder selbst beurteilen. Mein Eindruck: In unseren christlichen Kompromissvereinen ist für radikale Ideen nicht allzu viel Platz. Manchmal wagt die eine oder andere Kirchgemeinde aber doch mal was. Wie man hört, hängen derzeit an manchen Kirchgebäuden Werbebanner für die bevorstehende Konzernverantwortungsinitiative (KVI).
Das gefällt nun aber auch wieder nicht allen. 50 bernische Grossräte von BDP, FDP und SVP haben gerade einen offenen Brief an die reformierte Landeskirche gerichtet. Mit allerlei Argumenten kritisieren sie den Einsatz der Kirchgemeinden für die KVI. Manches davon tönt leicht beleidigt. Die Bürgerlichen im Grossen Rat hätten sich immer wieder für die Landeskirchen eingesetzt, heisst es etwa. Und nun würden diese «wie die Marktschreier im Tempel» für die KVI weibeln – für ein Anliegen der rot-grünen Parteien. Politik sei aber nicht das Kerngeschäft der Kirchen!
Als ich den offenen Brief las, kamen mir zwei Fragen in den Sinn. Erstens: Hätten sich die 50 bernischen Grossräte genauso aufgeregt, wenn die Kirchen ein bürgerliches Anliegen unterstützen würden? Zweitens: Was würde wohl der Herr Jesus zur KVI sagen? Also nicht der unpolitische aus dem Bilderrahmen. Der andere.
MARK POLLMEIER
M.POLLMEIER@FRUTIGLAENDER.CH