BAUCHGEFÜHLE - Der reiche Klang eines einfachen Lebens
22.12.2020 KolumneDer reiche Klang eines einfachen Lebens
Kerzen erleuchten meine Stube, echte Kerzen, die ich mit einem Streichholz anzünde und vor dem Zubettgehen auspuste und genüsslich die Nase durch das Räuchlein ziehe. Keine elektrisch erleuchtete Girlande und anderer Firlefanz kann ...
Der reiche Klang eines einfachen Lebens
Kerzen erleuchten meine Stube, echte Kerzen, die ich mit einem Streichholz anzünde und vor dem Zubettgehen auspuste und genüsslich die Nase durch das Räuchlein ziehe. Keine elektrisch erleuchtete Girlande und anderer Firlefanz kann diese Momente ersetzen. Seit meiner Kindheit gehören echte Kerzen in der finsteren Jahreszeit zu meinem Leben, mit all ihren Freuden und Gefahren.
In dieser warmen Atmosphäre lese ich gerne in der Stille der Nächte im Buch des französischen Autors Christian Signol, das mich in das erste Jahr des 20. Jahrhunderts führt, in das Gebiet Causse de Quercy, nördlich von Toulouse, als eine verzweifele Frau ihr Neugeborenes kurz vor Weihnachten mitten in einer Schafherde ablegte. Der alte Schäfer fand das Findelkind, trug es in seine Hütte und nannte es Marie des Brebis (Brebis – Mutterschaf). Dort durfte Marie in Liebe und Geborgenheit ihre Kindheit verbringen.
Ende der 1980er-Jahre hat Marie dem Schriftsteller ihre Geschichte erzählt, «den reichen Klang eines einfachen Lebens», wie sie es so schön nennt. Zeitlebens ist sie naturnah und bescheiden geblieben: «Ich konnte kaum laufen, da habe ich schon gelernt, wie ich mich unter den Bauch der Mutterschafe gleiten lassen musste, um direkt aus dem Euter zu trinken. Sie wiesen mich nicht zurück und nie habe ich nur den kleinsten Stoss erhalten. Immer wusste ich, was Glück bedeutet: Dass man zufrieden ist mit dem, was man hat, und sich selbst so akzeptiert, wie man ist.»
Sie erzählt uns vom Zauber der kleinen Dinge: einem Waschtag am leise plätschernden Fluss, von den Weideplätzen, die sie mit ihren Schafen aufsuchte. Von Tanzabenden mit ihren Freunden, von ihrer kleinen Familie, von Weihnachten, als sie kleine selbst geschreinerte und genähte Geschenke unter einen kleinen Weihnachtsbaum zwischen die Stiefel der Kinder legte. Wie sie Orangen für ihre fünfköpfige Familie mit den letzten Centimes kaufte, Käse, Brot und Wein mit dem Bettler teilte, wie sie ihren Sohn im Zweiten Weltkrieg bei der Resistance im Kampf gegen den Nationalsozialismus verlor und ihr geliebter Florentin durch die Tuberkulose immer schwächer wurde und sie schliesslich alleine mit ihren Kindern zurückliess.
Was mich ganz besonders aufrüttelte, war, dass diese einfache Frau in den 1980er-Jahren bereits erkannte, was mich heute so nachdenklich stimmt: «Die meisten Leute kämpfen heute nicht für das Notwendigste, das Recht auf Leben und Essen, sondern für Oberflächliches wie einen dritten Fernseher oder das neuste Auto. Der Wettlauf, an dem wir teilnehmen, hat nicht nur unsere Erinnerung, sondern auch unsere Weisheit ausgelöscht.» Ganz klar erklärt sie im gleichen Atemzug, dass sie nicht den Eindruck hinterlassen will, nur an die Vergangenheit zu denken und den Fortschritt abzulehnen. Sie ist dankbar, dass sie an ihrem Lebensende genug zu essen hat, lesen und sich an schöner Musik erfreuen darf, im Kreise ihrer Familie noch im Rollstuhl einen Platz und Aufgaben findet. Dazu meint sie am Ende des Buches: «Nie hätte ich mir ein so friedliches Lebensende erträumt. Die Tatsache, dass ich nicht mehr laufen kann, hat mich viele verdeckte Schönheiten erkennen lassen.»
Weihnachten steht vor der Türe. Nehmen wir uns doch die Zeit, den wahren Sinn und die Werte dieser Zeit zu erkennen. Gönnen wir uns Ruhe, suchen wir den inneren Frieden, erfreuen wir uns an kleinen Dingen: der wohligen Wärme der Stube, am Flackern des Kerzenlichts, dem Geruch von frischen Tannenzweigen, am kostbaren Geschmack einer Orange, dem Knacken der Erd- und Baumnüsse oder einfach am Leben – es könnte uns viel schlechter gehen!
YVONNE SCHMOKER
YSCHMOKER@BLUEWIN.CH