KOLUMNE – QUERGESEHEN - Zweierlei Natur
22.12.2020 KolumneZweierlei Natur
Hat hier jemand etwas gegen die Natur? Kaum: «Natur» ist ein positiv besetztes Wort, Natur ist gut und schön.
Allerdings wird der Begriff sehr unterschiedlich verwendet. In der Kurzform: Für die einen ist der Mensch Teil der Natur, für andere steht ...
Zweierlei Natur
Hat hier jemand etwas gegen die Natur? Kaum: «Natur» ist ein positiv besetztes Wort, Natur ist gut und schön.
Allerdings wird der Begriff sehr unterschiedlich verwendet. In der Kurzform: Für die einen ist der Mensch Teil der Natur, für andere steht er ausserhalb der Natur. Letztere neigen dazu, alles menschliche Treiben als «Eingriff in die Natur» zu definieren – und oftmals zu kritisieren. In extremis empfinden sie unsere Spezies als Störfaktor auf der Erdoberfläche; nur ohne menschliche Aktivitäten würde die Natur wieder im wohlverdienten, prächtigen Urzustand erblühen. In dieser Denkschule finden sich radikale Umweltschützer und – aktuell – die immer zahlreicheren Veganerinnen und Veganer. Die Natur, der sie sich nicht zugehörig fühlen, wollen sie nur sehr zurückhaltend nutzen: Tiere dürfen nicht als Lieferanten von Lebensmitteln wie Eiern oder Milch missbraucht, geschweige denn getötet und verspeist werden. So weit es nur immer geht, hat der Mensch die Natur in Ruhe zu lassen.
Eine andere, weniger romantische Naturphilosophie begreift den Menschen als Teil des Ganzen. Schliesslich sind auch wir nur eine – wenn auch raffiniert entwickelte – Art unter den Säugetieren. Wir bilden das Schlussglied einer Nahrungskette, in der das gegenseitige Fressen und Gefressenwerden die natürlichste Sache der Welt ist. Nicht einzusehen also, weshalb sich nicht auch der Mensch für seine Ernährung anderer Tiere bedienen sollte. Im Unterschied zur instinktgetriebenen Tierwelt können wir darauf zwar verzichten, wir können vegetarisch oder vegan leben. Aber müssen wir das auch? Selbstverständlich ist es jeder und jedem freigestellt, gemäss persönlicher Ethik – oder persönlichem Geschmack – den Konsum tierischer Produkte zu unterlassen (und sich allenfalls mit lebensmitteltechnologisch elaborierten Fleisch-Imitaten zu verköstigen). Doch bei allem Respekt für eine solche Haltung: Es steht niemandem zu, sie zur allgemeingültigen Norm für alle zu erklären.
Aber bitte: Auch jene, die das menschliche Tun und Lassen als Teil der Natur verstehen, haben damit keinen Freibrief in der Tasche. Auch für sie gilt die moralische Maxime, Schmerzen, Angst und Leid von Lebewesen nach Möglichkeit zu vermeiden. Will heissen: Rücksichtslose Schlachtmethoden und industrielle Massentierhaltung sind untragbar. Was wiederum bedeutet, dass der Fleischkonsum hierzulande zu hoch ist. Weniger Fleisch essen ist angesagt – und zwar auch deshalb, weil die Tierzucht weltweit enorme Mengen des klimaerhitzenden Treibhausgases Methan verursacht, und weil die Futtermittelproduktion oft zulasten artenreicher Wiesen und Regenwälder geht. Kurz: Auch wenn der Mensch ein Teil der Natur ist, sollte er dem Rest derselben behutsam begegnen.
TONI KOLLER
TONI_KOLLER@BLUEWIN.CH