Vom Beinahe-Aprilscherz zum frühzeitigen Weihnachtsgeschenk
22.12.2020 Aeschi, AeschiriedVor zehn Jahren kaufte Edi Rüegsegger auf einer Russlandreise drei Glocken, die am Zoll konfisziert wurden. Auf schier unerklärliche Weise erhielt er sie kürzlich zurück.
KATHARINA WITTWER
Altlandwirt Edi Rüegsegger sammelt seit Jahren Glocken, Schellen und ...
Vor zehn Jahren kaufte Edi Rüegsegger auf einer Russlandreise drei Glocken, die am Zoll konfisziert wurden. Auf schier unerklärliche Weise erhielt er sie kürzlich zurück.
KATHARINA WITTWER
Altlandwirt Edi Rüegsegger sammelt seit Jahren Glocken, Schellen und Treicheln und handelt auch damit. Wie gross seine Kollektion ist, weiss er nicht. Von vielen Stücken kennt er die Herkunftsgeschichte, weiss, wo und wann ungefähr sie gegossen oder geschmiedet wurden und welches Sortiment die (einstigen) Manufakturen im In- und Ausland produzierten. In seiner Kellerwerkstatt repariert und stellt er Glockenriemen her. Sein breites Wissen entnimmt er vor allem der Fachliteratur. «Das Ganze ist ein Hobby», sagt der 69-Jährige. «Schaut beim Handel finanziell etwas heraus – umso besser.»
Problemlose Einfuhr
2010 schenkten die Kinder ihm und seiner gleichaltrigen Frau zum baldigen runden Geburtstag eine Leserreise nach Russland, organisiert von «Der Schweizer Bauer». Auf dem Reiseprogramm stand unter anderem der Besuch bei drei ausgewanderten Landwirten auf deren Höfen. Der «angefressene Viehglockenund Treichelfan» – wie er sich selber bezeichnet – besorgte für jeden Betriebsleiter eine ungefähr faustgrosse Glocke. Gut verpackt im Reisekoffer passierten die Gastgeschenke problemlos sämtliche Zollkontrollen.
Am Tag vor der Rückreise besuchte die Schweizer Reisegesellschaft den Trödlermarkt auf dem Sperlingsberg in der Nähe von Moskau. Dort entdeckte Rüegsegger drei russische Zapfenglocken mit kyrillischer Inschrift und reinem Klang. «Das wäre ein ideales Mitbringsel für jedes unserer Kinder», sagte er sich und erwarb die guten Stücke. Wo und wann wurden sie gegossen? Wozu dienten sie? Waren es Haus-, Schul- oder Schiffsglocken? Weil die «Bügel» zapfenförmig sind (daher der Name Zapfenglocke) waren sie definitiv nie um den Hals eines Tieres geschnallt. Das Geheimnis bleibt ungelöst.
Albtraum am Flughafen
Wie bei der Hinreise wickelte der Aeschiner die Neuerwerbung in Zeitungspapier und verstaute sie im Koffer. Beim Einchecken am Flughafen Domodedova entnahm die Zöllnerin die Glocken, packte sie aus und rief «Kultura, Kultura!» «Plötzlich standen mehrere uniformierte Beamten um mich herum und führten mich in einen Nebenraum», erinnert sich Rüegsegger. Sogar der «Station Manager Swiss Moskau» wurde beigezogen. Die Reisebegleiterin Barbara Schwitter flüsterte ihm zu, er müsse alles tun, was von ihm verlangt werde. Der unbescholtene Bürger verstand zwar keine Silbe, unterschrieb aber jede Menge in kyrillischer Schrift verfasste Formulare. «Obschon mich der Verlust schmerzte, war ich erleichtert, als die Maschine wegen dieses albtraumhaften Zwischenfalls mit etwas Verspätung Richtung Heimat abhob.»
Ende gut, alles gut
Die Jahre zogen ins Land und Rüegsegger dachte ab und zu an diese Reise und die Glocken. Am 2. April 2020 erhielt er einen unerwarteten Telefonanruf von Florian Köppel, seines Zeichens Konsul in Moskau. Er berichtete, dass am Zoll von Moskau drei Glocken freigegeben worden seien und zur Abholung bereitstünden. Ob das vielleicht ihn betreffe? Das kann nur ein verspäteter Aprilscherz sein! dachte der Angerufene im ersten Moment. Dass die Glocken nach zehn Jahren herausgegeben wurden, war für ihn unfassbar. Sie selber abholen war keine Option. Stattdessen organisierte die Schweizer Botschaft die Abholung und der Konsul nahm die Glocken auf seiner nächsten Reise in die Heimat mit. «Als mir Herr Köppel im Oktober die Glocken übergab, war das für mich wie ein frühzeitiges Weihnachtsgeschenk!», so der sichtlich gerührte Mann. Vorerst verbleiben sie in seinem Besitz.