«Viele haben die Ungewissheit langsam satt, andere sind erstaunlich gelassen»
26.01.2021 GesundheitDas Coronavirus fordert uns seit knapp einem Jahr. Unsicherheit, der bereits hohe Stresspegel, Depressionen und im schlimmsten Fall Überlebensängste nehmen zu. Psychiater sind gefordert. Zur Lage im Tal befragte der «Frutigländer» Dr. med. Andreas Stucki, Stv. Chefarzt Psychiatrie, ...
Das Coronavirus fordert uns seit knapp einem Jahr. Unsicherheit, der bereits hohe Stresspegel, Depressionen und im schlimmsten Fall Überlebensängste nehmen zu. Psychiater sind gefordert. Zur Lage im Tal befragte der «Frutigländer» Dr. med. Andreas Stucki, Stv. Chefarzt Psychiatrie, Leiter der Ambulanten Dienste Frutigen.
Herr Stucki, gemäss WHO (Weltgesundheitsorganisation) sind Depressionen die Volkskrankheit Nummer eins. In den letzten zehn Jahren haben diese um 18 Prozent zugenommen. Können Sie das bestätigen?
Der WHO kann ich schlecht widersprechen, diese Aussage hat bestimmt Hand und Fuss. Unsere Eindrücke als Einzelpersonen zu so grossen Fragen sind immer sehr eingeschränkt und subjektiv. Ich nehme an, dass unser überfrachtetes und überstrukturiertes Leben – sei es in der Schule, am Arbeitsplatz oder in der Freizeit – nicht wirklich gesundheitsförderlich ist. Obwohl Struktur, Vertrautheit und Routine für unser Leben sehr wichtig sind, ist der hochgetaktete, übervolle Terminkalender unserem Dasein (Körper, Geist und Seele) nicht förderlich. Dieser ungesunde, teils uns selbst auferzwungene Lebenswandel und der dadurch entstehende Stress manifestiert sich bei vielen Menschen früher oder später in der einen oder anderen psychischen oder körperlichen Krankheit.
Mit Corona ist etwas Neues hinzugekommen. Hat die Anzahl der Patienten zugenommen?
Bisher nicht gross, aktuell gehen jedoch mehr Anmeldungen ein. In der ersten Welle letzten Frühling gingen die Anmeldungen sogar zurück, oder Patienten sagten ihre Sitzung ab aus Angst vor einer Ansteckung. So versuchten wir, neben den vor Ort notwendigen Therapiestunden, die Sitzungen auch telefonisch oder per Videokonferenz abzuhalten, denn den therapeutischen Kontakt brauchten die PatientInnen über kurz oder lang. Die Projekte für Gruppentherapien in Frutigen mussten wir leider sistieren. In ausgewählten Fällen konnten oder mussten wir die PatientInnen an die therapeutischen Angebote (Tagesklinik, Begegnungszentrum Lichtblick, stationäre Behandlung) in Interlaken oder an andere Institutionen weiterleiten.
Wie finden PatientInnen den Weg zum psychiatrischen Dienst?
Am häufigsten werden sie von den HausärztInnen überwiesen. Erste Kontakte finden aber auch im Spital statt, wenn körperliche Krankheiten behandelt werden. Mir fällt auf, dass die Hausarztbindung im Frutigland recht stark ist. Den sich schon lange Zeit zuspitzenden Hausärztemangel spüren wir, aber die Zusammenarbeit mit den Niedergelassenen ist sehr gut. Dies hat in den letzten Jahren zu einer steten Zunahme der Zuweisungen geführt. Aktuell arbeiten am Spital Frutigen ein Psychiater und eine Psychiaterin mit einem Stellenpensum von 160 Prozent, sieben PsychologInnen (total 480 Prozent) und eine Kunsttherapeutin mit 20 Prozent. Die TherapeutInnen werden von zwei Sekretärinnen unterstützt. Selbstverständlich sind wir nur ein Teil der Spitäler fmi AG und profitieren von dieser Organisation.
Welche coronabedingten Probleme machen den Klienten am meisten zu schaffen?
Viele haben die Ungewissheit langsam satt und können das Ganze nicht mehr hören. Leute in Kurzarbeit oder Arbeitslose haben oft Existenzangst. Fehlen die Tagesstrukturen, besteht die Gefahr, in eine Negativspirale zu geraten. Auch die soziale Isolation ist ein grosses Thema. Einsame werden noch einsamer, da Kontakte vermieden werden sollten. Risikopatienten leiden zum Teil an «Corona-Angst», was aufgrund der vielen Unsicherheitsfaktoren gut nachvollziehbar ist. Sehr viele Leute bleiben angesichts der schwierigen Situation aber auch erstaunlich gelassen.
Gibt es eine Häufung innerhalb einer Altersgruppe, eines Bildungsniveaus oder eines sozialen Status?
Von ungefähr 18-Jährigen (die nächste Anlaufstelle für Kinder- und Jugendpsychiaterie befindet sich in Spiez) bis zu Senioren ist bei uns die Altersdurchmischung ungefähr ausgeglichen. Ob reich oder arm, studiert oder ohne Ausbildung: die Probleme und Leiden finden sich querbeet. Klar, wer buchstäblich ums tägliche Brot kämpft, dem muss primär beim Überleben geholfen werden. Da sind keine tiefgründigeren Therapien möglich.
Wie lange bleiben Patienten in der Regel in Behandlung?
Das ist sehr unterschiedlich. In einer akuten Krise reichen vielleicht zwei bis drei Gespräche. Je nach Situation und Person können bei einer oberflächlichen Geschichte während der Behandlung tiefe Wunden zum Vorschein kommen. Dann sind unter Umständen über mehrere Monate bis Jahre regelmässige Therapien notwendig. Ich verwende den Ausdruck «heilen» nicht gern, zutreffender finde ich «gesunden», was oft schwierig ist. Leiden gehört nun mal zum Leben. Lernen PatientInnen, mit ihrem Leiden besser umzugehen, ist das ein Fortschritt und eine Art Gesundung. Wenn nötig, werden Leute auch zu Hause unterstützt. Hier arbeiten wir eng mit der Psychiatrie-Spitex zusammen, aber auch bei den psychiatrischen Diensten wird zunehmend aufsuchend gearbeitet. Übrigens werden Psychiatrie- oder Psychologiebehandlungen von der Krankenkasse übernommen.
Gibt es eine ideale Behandlungskadenz?
Die Intensität der Behandlungen hängt vom Krankheitsbild ab. Wir müssen jeweils herausfinden, wie häufig bei PatientInnen eine Sitzung angemessen ist. Einige benötigen während einer kurzen Zeit eine enge Begleitung, andere kommen unterschiedlich lange ein- bis zweiwöchentlich, und wieder andere bleiben über Jahre monatlich oder weniger häufig in therapeutischer Begleitung. Es ist eine Tatsache, dass es im Oberland zu wenige Therapieplätze gibt. Dies führt dazu, dass bei einer dem Leiden ungenügenden Behandlungskapazität Notfälle häufiger sind, oder dass psychisches Leiden zum Teil in der einen oder anderen Weise auf der Köperebene Ausdruck findet oder eine Behandlung nicht genügend wirksam wird.
Wie reagieren die Klienten, seit alle Maske tragen müssen? Genügt der Augenkontakt?
Das Tragen der Maske ist für alle mühsam und ist für den Kontakt sicherlich beschwerlich. Selbstverständlich kommunizieren wir über unseren Gesichtsausdruck, und so geht über die Abdeckung der unteren Gesichtshälfte viel verloren. Auch das Verständnis des Ausgesprochenen wird durch die maskenbedingte Dämpfung schlechter. Wie bei der Frage nach der Häufigkeit ist aber auch hier abzuwägen, wie am besten geholfen werden kann. Das Risiko einer Ansteckung zu erhöhen, um kurzfristig eine bessere Kommunikation zu erreichen, ist sicher unverhältnismässig.
Kann der oft zitierte Ausspruch «Krise als Chance» auch bei psychisch angeschlagenen Personen zutreffen?
Jein. In der ersten Phase während des Shutdowns gab es PatientInnen, die erleichtert waren, dass plötzlich viele Termine abgesagt wurden und ihre Agenda sich leerte. Plötzlich hatten sie Raum, sich auf wesentliche Bedürfnisse zu besinnen. Die einen sind froh, dass Begrüssungsrituale mit Händeschütteln oder Abküssen ein Tabu geworden sind, anderen fehlt seither der Körperkontakt. Aber: Zwischenmenschliche Kontakte sind grundsätzlich wichtig. Die Vereinsamung ist weit davon entfernt, eine Chance zu sein. Gerade jetzt, da sich nur noch maximal fünf Personen aus höchstens zwei Haushalten treffen dürfen, sollte die Pflege der wenigen, ausgewählten Kontakte unbedingt beibehalten werden.
INTERVIEW KATHARINA WITTWER
ZUR PERSON
Andreas Stucki (Jahrgang 1965) erlangte erst den Facharzt in Allgemeinmedizin, anschliessend in Psychiatrie und Psychotherapie. Nach Jahren in der Region Bern kehrte er in seine Heimat, das Berner Oberland, zurück. Seit 2010 arbeitet er bei der Spitäler fmi AG. Zuerst war er in Interlaken tätig. Seit 2012 ist er für die Leitung der ambulanten Dienste Frutigen zuständig. Der Vater zweier erwachsener Kinder ist vielseitig interessiert und betätigt sich in seiner Freizeit unter anderem auf einem kleinen landwirtschaftlichen Betrieb mit Pferden. WI