In der «wildesten Alpenwand»
06.01.2021 Sport, NaturALPINISMUS Vor fünfzig Jahren gelang drei jungen Berner Oberländern im zweiten Anlauf eine Wintererstbegehung in den französischen Alpen. Der Erfolg löste ein grosses mediales Echo aus.
HANS HEIMANN
«Die Nordwand des Droites war das letzte Winterproblem in den ...
ALPINISMUS Vor fünfzig Jahren gelang drei jungen Berner Oberländern im zweiten Anlauf eine Wintererstbegehung in den französischen Alpen. Der Erfolg löste ein grosses mediales Echo aus.
HANS HEIMANN
«Die Nordwand des Droites war das letzte Winterproblem in den Alpen», meint Häns Müller einleitend. «Das Eisfeld ist wesentlich steiler als dasjenige der Eiger-Nordwand», erklärt der Reichenbacher weiter. «Der obere Teil der Wand ist felsig und wird als Schwierigkeitsgrad 5 eingestuft. Pulverschnee an den Felsen erschwerte uns damals die Kletterei und erhöhte die Gefahr noch wesentlich.» Mit Hans Berger aus Steffisburg und dem Reichenbacher Hansjürg Müller startete er das Vorhaben, mit dem die damals Anfang Zwanzigjährigen schon seit einiger Zeit geliebäugelt hatten, am 23. Dezember 1970. Während Häns und Hans in der Wand vorausstiegen und Fixseile montierten, trug ihnen Hansjürg als Helfer die Seile hintennach. Jeweils am Abend stieg das Trio wieder zur Refuge d’Argentière auf 2771 Metern ab. In der Hütte kümmerte sich Hansjürg ums Kochen. «Ein Biwak bei den damals herrschenden Aussentemperaturen von bis zu minus dreissig Grad war nicht möglich und hätte uns sowieso zu viel Energie gekostet», erklärt Häns. Aber auch in der ungeheizten Hütte sank die Temperatur bis auf zwölf Grad unter null. Am Weihnachtstag hatten sie mehr als die Hälfte der Wand hinter sich. Weil sich aber das Wetter am Stephanstag verschlechterte, entschieden sie sich zum Abstieg. Die Seile liessen sie in der Wand und fuhren nach Thun zurück. An Silvester kehrten sie erneut in Argentière ein, und schon am Neujahrsmorgen stiegen sie wieder in die Wand ein. An deren Fuss trafen sie auf eine japanische und eine deutsche Gruppe, die anscheinend das Gleiche vorhatten, aber dann doch nicht eingestiegen waren, wohl wegen den schlechten Wetterbedingungen.
Der Wetterumschwung hatte seine Spuren hinterlassen und das Höherkommen bereitete den Oberländern grosse Mühe, denn ihre zuvor befestigten Seile waren stark vereist. Es war bereits Nachmittag, und um vierzig Meter hochzusteigen, hatten sie zweieinhalb Stunden gebraucht. Da die Temperatur immer noch minus dreissig Grad betrug, entschieden sie sich für den Abstieg zur Hütte.
Am dritten Tag des neuen Jahres lief es endlich besser und sie waren nur noch ungefähr dreihundert Meter vom Gipfel entfernt. «Wir hofften, den Gipfel am nächsten Tag zu erreichen», schrieb Hans damals in einem Bericht, und erwähnte, dass sie wiederum zur Hütte zurück abstiegen.
Geklettert wie ein Besessener
Am folgenden Tag, dem 4. Januar, gab es sehr früh Tagwache. Erneut stiegen sie auf dem gleichen Gelände hoch. «Ist es das letzte Mal, dass wir unsere Steigbügel in diese Seile hängen?», dachte Hans und erinnert sich, dass Häns plötzlich wie ein Besessener geklettert sei. Alle Mühe schien vergessen und ihre Freude war unbeschreiblich, als sie um 17 Uhr bei bissiger Kälte endlich den Gipfel erreichten. Dass Hansjürg ebenfalls bis mit auf den Gipfel steigen würde, war nicht geplant gewesen: «Ich war ja als Träger engagiert, aber es war für mich wie ein Geschenk, ebenfalls auf dem Gipfel zu stehen.» Sogleich stiegen die drei wieder zur Argentière-Hütte ab. Nach einem Ruhetag wurden noch die Seile eingezogen, und dann war das Vorhaben im Expeditionsstil dank langen und seriösen Vorbereitungen abgeschlossen.
«Mir war das nicht so wichtig»
Der Erfolg fand in der französischen Presse und im Fernsehen grosse Beachtung. Häns erinnert sich noch mit einem Lächeln: «Mein Französisch war damals nicht so gut, und diese Erstbesteigung, wie eigentlich alle anderen davor und danach, waren mir nicht so wichtig.» Dennoch darf abschliessend gesagt werden, dass die drei Alpinisten Geschichte geschrieben haben, denn vor ihnen waren sechs Winterbegehungen anderer Bergsteiger in der Droites-Nordwand gescheitert. Zudem bezeichnete kein Geringerer als Reinhold Messner diese Wand in einem seiner Bücher als die «wildeste unter den Alpenwänden». Messner weiter: «Wollte man den Kreis der ‹Großen Nordwände der Alpen› von sechs auf sieben erweitern, so müsste man dabei zunächst die Droites-Nordwand berücksichtigen.»