ESSAY Was verbirgt sich hinter der Maske? Wir sehen es nicht. So beflügeln die Mund-Nasen-Bedeckungen unbekannter Menschen unsere Phantasie – und der Blick fällt auf die Schönheit der Augen.
TONI KOLLER
Jetzt sind sie sogar in den Dorfstrassen der Kurorte ...
ESSAY Was verbirgt sich hinter der Maske? Wir sehen es nicht. So beflügeln die Mund-Nasen-Bedeckungen unbekannter Menschen unsere Phantasie – und der Blick fällt auf die Schönheit der Augen.
TONI KOLLER
Jetzt sind sie sogar in den Dorfstrassen der Kurorte vorgeschrieben: Die allgegenwärtigen Gesichtsmasken werden uns noch für längere Zeit verfolgen. Höchste Zeit also für einen Versuch, sich auch jenseits des epidemiologischen Zwecks mit den Papier- oder Stofffetzen anzufreunden. Der Weg dazu führt über die neue Wertschätzung dessen, was sichtbar bleibt: die Augen. Die Fenster zur Seele.
Je länger das Maskentragen zum Usus gehört, desto mehr fällt mir auf, wie schön mir die Augen der Leute erscheinen, deren untere Gesichtshälfte bedeckt ist. Kaum habe ich Augenkontakt mit Maskierten, bin ich irgendwie berührt, fast jedesmal (naja, in meinem Fall zugegebenermassen immer noch bevorzugt bei weiblichen Augen) – und unabhängig davon, was von dem Gegenüber sonst noch wahrzunehmen ist. Manchem Augenpaar mag eine momentane Gefühlslage anzumerken sein: verkniffen wegen Missmuts, weit offen vor Erstaunen. Aber abstossende, unschöne, gar hässliche Augen – das gibt es kaum.
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Es scheint, dass sich all die möglichen Unansehnlichkeiten eines menschlichen Gesichts allein um den Mund herum versammeln – dieser Tage gnädig versteckt hinter Stoff und Papier. Darüber leuchten Augenpartien in allen Variationen, Farben und Formen; sie auch nur mit kurzen Blicken zu streifen, ist eine Freude. Corona hat es an den Tag gebracht: lauter sympathische, lebendige, interessante Leute da draussen!
Auch meine ich zu beobachten, dass Augenkontakt mit Fremden derzeit häufiger und unbefangener geschieht als in den maskenlosen Zeiten. Vielleicht scheut man sich weniger davor, weil der blosse Blick – ohne erkennbaren Gesichtsausdruck – etwas anonymer und damit unverfänglicher daherkommt.
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Und schliesslich weiss man ja längst, wie es sich mit der erotischen Anziehungskraft verhält: Ein nackter Körper ist keineswegs attraktiver als ein wohldrapiert bekleideter. Davon lebt die ganze Modebranche: Gewänder stimulieren die Vorstellungskraft, Verdecktes weckt jene Neugierde, die nach Schönem sucht. Könnte es sein, dass sich diese uralte Erfahrung nun am Antlitz wiederholt? Und wir die Masken deshalb irgendwie gern bekämen? Italiener und Tessiner nehmen dies in gewisser Weise schon heute vorweg. Sie benennen die Covid-Maske mit einem liebevollen Diminutiv: «la mascherina», das Mäskelchen.