Weltcup: Ungewohnte Bilder, ungewohnte Wege, ungewohnte Stille
12.01.2021 Adelboden, SportAn der Weltcup-Ausgabe 2021 war so ziemlich alles anders, was anders sein konnte. Das galt für die Helfer ebenso wie für die Fahrer und die Medienleute. Trotz allem: Kultspeaker Sepp Odermatt blieb sich treu.
RETO KOLLER
«Stille wars, die Sonn' schien helle, Schnee ...
An der Weltcup-Ausgabe 2021 war so ziemlich alles anders, was anders sein konnte. Das galt für die Helfer ebenso wie für die Fahrer und die Medienleute. Trotz allem: Kultspeaker Sepp Odermatt blieb sich treu.
RETO KOLLER
«Stille wars, die Sonn' schien helle, Schnee lag auf der weiten Flur, als ein Skicrack blitzesschnelle in den Chuenis-Hang einfuhr …» – an dieses etwas umgeformte Scherzgedicht fühlte sich erinnert, wer sich kraft seines Amtes als HelferIn, JournalistIn oder Athlet am vergangenen Wochenende am Chuenisbärgli aufhielt. Keine Spur von singenden und johlenden Fans, keine Nationensongs, wenn sich ein Fahrer in den Zielhang katapultierte, keine Interviews von Entertainer Chrigel Graf. Keine armeschwenkenden Cheerleader vom SC Bern, keine fahnenschwingenden JO-Kinder. Immerhin stimmten drei welsche TV-Leute das Vogellsi-Lied an, als Justin Murisier die Ziellinie überquerte. Ansonsten: Stille wars am Chuenisbärgli.
Ansagen ins Nichts
Der nimmermüde Kultspeaker Sepp Odermatt beginnt seinen Auftritt beim Freitagmorgen-Riesenslalom ungewohnt verhalten. Wie sonst wäre seine Anrede «Sehr verehrte Anwesende …», zu erklären, zu der er sich einmal versteigt? Doch kaum erscheint der erste Schweizer Gladiator an der Zielhangkante, da überschlägt sich des Innerschweizers Stimme ein erstes Mal – ganz wie in alten coronafreien Zeiten. Er steigert seine Redefreude von Lauf zu Lauf, von Rennen zu Rennen und liefert ab und zu kleine rhetorische Höhepunkte: «Doppelführung fürs Schweizer Team nach drei Fahrern!», ruft er am Riesenslalom vom Samstag aus, als das Rennen wegen des schlimmen Sturzes des Amerikaners Tommy Ford eine halbe Stunde unterbrochen ist. Odermatt legt jede Zurückhaltung ab und kommentiert, als würden 25 000 Menschen an seinen Lippen hängen. Dabei sind es nebst dem Fahrertross doch nur etwa 70 Medienleute und rund 350 Helfende.
Dreifaltigkeit der Farben im Zielgelände
Nur gerade drei Gruppen haben Zutritt ins Gelände. Den gelben Banderolen folgen die Journalisten, den roten die Athleten und den blauen die Helfer und die Offiziellen. So strikte ist das Regime des Organisationskomitees. Um Gottes Willen keine Durchmischung von gelb, blau und rot! Maskenpflicht von hinten bis vorne und von oben bis unten. Tausch des Gesichtsschutzes am Mittag, wenn der Schreiberling sich im Mediencenter eine Schweinswurst gönnen will. Freundliche Aufforderung, die Maske nach getaner Verpflegung wieder aufzusetzen, sollte man das einmal vergessen haben. Verpflegungschef Martin Tobler eilt mit Desinfektionsmittel herbei, sobald der zugeteilte, anderthalb Meter lange Arbeitsplatz verlassen wird. Die Verantwortlichen nehmen ihren Job wahrlich ernst. Kurz und gut: Keine Chance für das vermaledeite Virus! Sogar einige der wenigen Fans auf den die Piste säumenden Balkonen und Terrassen halten sich an die Verhüllungspflicht – wohl aus Solidarität.
Der Glockenschlag von den Balkonen
Ganz ohne Anfeuerung müssen die Rennfahrer nun doch nicht auskommen. An Balkonen befestigte Transparente geben ihnen etwas Schub, Glockengeläute von den Terrassen der angrenzenden Chalets spornen die Cracks noch ein wenig an. Kaum haben sie im Zielbereich abgeschwungen, herrscht wieder Grabesstille. Einzig der eine oder andere Wutschrei eines von sich und seiner Leistung enttäuschten Athleten ist zu vernehmen – eine Novität. Bisher verschlang die gewaltige Geräuschkulisse von der Haupttribüne jegliche Unmutsbekundung der Fahrer. Das gleiche gilt auch für Funktionärsjubel. Besonders die kroatischen Betreuer tun sich mit ihren Freudenschreien hervor, als ihr Schützling Filip Zubcic zweimal aufs Silberpodest fährt. Ihr Beifall hilft jedoch nur wenig gegen die eigentümliche Atmosphäre im Zielraum. Auch die Fahrer vermissen den frenetischen Jubel während und nach der Fahrt. «Wir leben und trainieren dafür, im Erfolg unsere Emotionen mit dem Publikum zu teilen», beschreibt Marco Odermatt seine Motivation. Damit geht er wohl mit allen Fans einig, welche die 2021er-Rennen zu Hause am TV miterleben. Einige Auserwählte geben ihre Emotionen an der interaktiven Videowand kund. Dies hätte auch der querschnittgelähmte ehemalige Abfahrer Silvano Beltrametti liebend gerne getan, als sich sein Freund Gino Caviezel aus dem Zielhaus stürzt. Leider scheidet er früh aus, und Beltrametti muss auf seinen virtuellen Kurzauftritt verzichten.
Keine Zaungäste, dafür Langläufer
Unverdrossen drehen sie ihre Runden, die Langläuferinnen und Langläufer. Die einen eilen im schnellen Skating-Schritt vorbei, die anderen lassen es im klassischen Stil gemütlich angehen. Man lässt den Weltcup Weltcup sein und widmet sich seinem Freizeitvergnügen, diesmal allerdings im Angesicht des Zielhanges. In normalen Zeiten wäre hier kein Durchkommen, die Loipenspur ist jeweils von einer ganzen Zeltstadt belegt und während Wochen gesperrt. Einige unentwegte Skifans haben sich allen Aufrufen des OKs zum Trotz ein Plätzchen gesucht, um das Rennen aus grösstmöglicher Nähe zu verfolgen. Sie machen aber bald unliebsame Bekanntschaft mit den Beamten der Kantonspolizei, die sie mehr oder weniger freundlich auffordern, sich von dannen zu machen. So ergeht es auch der Familie von Gino Caviezel, die in der Nähe der Loipe mitfiebert, bis sie von einer Gesetzeshüterpatrouille ziemlich schroff vertrieben wird. Es bleibt bei den zuschauerlosen Rennen – ganz so, wie es sich das Organisationskomitee gewünscht hat.