DERFÜR U DERWIDER - Die Stärke des Volkes
09.02.2021 KolumneDie Stärke des Volkes
In meiner letzten Kolumne habe ich die Bundesverfassung zitiert. Sinngemäss heisst es dort: «Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.» Allerdings habe ich dabei den ersten Teil dieses Satzes unterschlagen: «Frei ist nur, wer ...
Die Stärke des Volkes
In meiner letzten Kolumne habe ich die Bundesverfassung zitiert. Sinngemäss heisst es dort: «Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.» Allerdings habe ich dabei den ersten Teil dieses Satzes unterschlagen: «Frei ist nur, wer seine Freiheit gebraucht.» Diese beiden entgegengesetzten Aussagen in einem einzigen Satz symbolisieren zwei wesentliche Linien der politischen Auseinandersetzung, die weltweit für heisse Köpfe sorgt und leider oft auch zum Einsatz von Waffen führt. In vielen politischen Fragestellungen geht es um ein Abwägen zwischen individueller Freiheit und solidarischer Absicherung durch den Staat. Je nach eigenem Standpunkt tragen diese Linien unterschiedliche Namen. Oft (vielleicht zu oft) teilen wir die politische Gesinnung in ein Links-Rechts-Schema ein, das übrigens auf die Sitzordnung der französischen Abgeordnetenkammer im 19. Jahrhundert zurückgeht. In den staats- oder wirtschaftspolitischen Debatten wird dabei von den einen (den Linken) mehr, von den anderen (den Rechten) weniger behördliche Intervention gefordert. Eigentlich geht es aber um Wesentlicheres, als um Staatspolitik oder eine politische Einordnung. Es geht um eine Werthaltung. Positiv und fair ausgedrückt, geht es um zwei wichtige Werte in unserer Kultur, die hier gegeneinander ausgespielt werden: Solidarität gegen Eigenverantwortung. Von den Verfechtern der neoliberalen Marktwirtschaft werden aber staatliche Eingriffe oft als Sozialismus oder Staatswillkür verschrien, während die Linken die Rückkehr des Patriarchats und der Bourgeoisie befürchten, sobald der Staat den Bürgerinnen und Bürgern mehr Freiheit und Unabhängigkeit gewährt. Diese zu vereinfachte Darstellung ist zudem überhaupt nicht durchgängig. So wird zum Beispiel das Militär als gewichtige staatliche Institution eher von den rechtsbürgerlichen Parteien gestützt, während die Linke in diesem Bereich ein Übergewicht diagnostiziert und eine entsprechende Diät verordnet.
Die ursprüngliche Frage aber bleibt: Braucht es mehr staatliche Intervention oder weniger, mehr solidarische Absicherung oder mehr Eigenverantwortung? Welcher Weg ist sinnvoll und wirksam? Um diese Frage für mich ganz persönlich zu beantworten, nehme ich wiederum den eingangs erwähnten Satz aus der Bundesverfassung zu Hilfe. Immer wenn es darum geht, Menschen mit besonderem Schutzbedarf (in der Präambel werden diese unfairerweise als «Schwache» bezeichnet) zu stützen oder das Überleben der angeschlagenen Umwelt zu sichern, soll eine wirksame staatliche Regelung geprüft werden. In den meisten übrigen Fällen werte ich die Selbstverantwortung höher, sofern «Selbstverantwortung» nicht in «nach mir die Sintflut» umgedeutet wird.
Beispiele gefällig? Gerne: Wenn es um Kleidervorschriften geht, wie dies in einer bevorstehenden Volksinitiative gefordert wird, soll sich der Staat doch bitte heraushalten. Damit werden Menschen und Glaubensgemeinschaften nur ausgegrenzt und kriminalisiert. Geholfen wird mit solcher Symbolpolitik aber niemandem. Ausgewiesenen Schutzbedarf orte ich demgegenüber aber für viele Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer auf den Strassen von Frutigen. Menschen mit Einschränkungen, Schülerinnen und Schüler oder unsere Grosseltern sollten sich in unserem Dorf ebenfalls sicher fühlen können. Hier erkenne ich Handlungsbedarf und hoffe, dass dies viele andere Bürgerinnen und Bürger von Frutigen auch so sehen.
HANS PETER BACH
HANSPETER.BACH@LIVENET.CH