Wichtigeren Problemen zuwenden
Eigentlich stimmen wir «nur» über ein Stück Stoff ab, dass entweder zu viel oder zu wenig ist, offensichtlich aber einfach am falschen Ort sitzt. Gewöhnungsbedürftig sind allerdings nicht nur Touristen aus anderen Kulturen, sondern ...
Wichtigeren Problemen zuwenden
Eigentlich stimmen wir «nur» über ein Stück Stoff ab, dass entweder zu viel oder zu wenig ist, offensichtlich aber einfach am falschen Ort sitzt. Gewöhnungsbedürftig sind allerdings nicht nur Touristen aus anderen Kulturen, sondern manchmal auch unser Verhalten in fremden Kulturen. So erlebte ich in den 1980er-Jahren, wie die Freikörperkultur an den marokkanischen Stränden die Berber – entweder aus Schock oder aus Lust – auf ihren Kamelen erstarren liess. Dies war unter ihrem verhüllten Antlitz jedoch nicht auszumachen. Sie waren verhüllt, einfach um sich vor den Sand transportierenden Winden zu schützen, welche ihre Fracht bisweilen auch über die Schweiz tragen.
Die Gegensätze prallten damals selbst im Freibad Frutigen aufeinander. Barbusige tummelten sich unter züchtig gekleideten Frauen in Badeanzügen, die bis zum Halse reichten. 1978 entschieden die Berner Justizbehörden, dass das «Entblössen der weiblichen Brüste» in Freibädern fortan nicht mehr zwingend als «schwere Missachtung des Sittlichkeitsgefühls» zu verfolgen sei. Die EDU reichte daraufhin im Januar 1979 mit fast 15 000 gültigen Unterschriften ein Volksbegehren ein, «das Entblössen der weiblichen Brüste an öffentlich zugänglichen Orten» sei zu verbieten und strafrechtlich zu ahnden. Die Ungültigkeitserklärung der Initiative besiegelte die Abkehr vom prüden Zeitalter. Ob die Berner Regierung «den heissen Fragen» aus dem Wege gehen wollte, wie einige dies interpretierten, sei dahingestellt.
Die Freizügigkeitswelle ebbte in den 1980er-Jahren jedenfalls von selbst ab. Man konnte sich in der Politik substanziell wichtigeren Problemen zuwenden, als über ein Stück Stoff zu diskutieren, welches zweifellos manchmal die Welt bewegt, Schutz bietet (u.a. auch Demonstranten), am richtigen Ort sitzt. Dies wäre wohl auch nach dieser Abstimmung dringendst angezeigt.
HANSPETER GÜNTENSPERGER, FRUTIGEN