ALTE ZÖPFE
Vor einiger Zeit erhielt ich eine elektronische Nachricht, die kaum News enthielt und genau deswegen so ernüchternd war: Die Lohnungleichheit zwischen Mann und Frau, teilte mir der Schweizerische Gewerkschaftsbund mit, sei immer noch Realität und habe in den ...
ALTE ZÖPFE
Vor einiger Zeit erhielt ich eine elektronische Nachricht, die kaum News enthielt und genau deswegen so ernüchternd war: Die Lohnungleichheit zwischen Mann und Frau, teilte mir der Schweizerische Gewerkschaftsbund mit, sei immer noch Realität und habe in den letzten Jahren gar zugenommen. Mittlerweile verdienen Frauen für gleichwertige Arbeit durchschnittlich 8,6 Prozent weniger als Männer. Macht monatlich 686.45 Franken.
Einer der Gründe für diesen Missstand ist zugleich eine Tugend: Bescheidenheit. Aufzeigen lässt sich das an einem Beispiel aus der Finanzwelt. Gemäss einer Studie schliessen Frauen schlechtere Aktiendeals ab als Männer. Dabei spielt nebst der Risikobereitschaft auch das Selbstbewusstsein beim Auftritt eine Rolle. Zwar schnitten Frauen in einem Wissenstest tatsächlich schlechter ab als Männer, jedoch vor allem deshalb, weil sie oft glaubten, die Antwort nicht zu wissen. Wurden sie zu einer Antwort gezwungen, war der Wissensunterschied unter den Geschlechtern deutlich kleiner.
Auch unser Rechtsstaat behandelt Frau und Mann teilweise unterschiedlich: Landet etwa eine Scheidung vor Gericht, konnten Frauen bis vor Kurzem in manchen Fällen erwirken, dass sie bis zur Pensionierung vom Ex-Mann finanziell unterstützt wird. Als eines der Kriterien galt das Alter: War der nicht berufstätige Ehepartner, meistens die Frau, zum Zeitpunkt der Scheidung älter als 45 Jahre, erachtete das Gericht den beruflichen Wiedereinstieg als unzumutbar. Diese Praxis hat das Bundesgericht nun geändert. Auch bei der AHV gibt es Geschlechterunterschiede: Ursprünglich lag das Rentenalter für alle bei 65 Jahren, bevor jenes der Frauen in den 50er- und 60er-Jahren gesenkt wurde – unter anderem deshalb, weil die Frau gegenüber dem Mann «physiologisch im Nachteil» sei.
Manche erachten solche Unterschiede als ausgleichende Gerechtigkeit, auch deshalb stösst die geplante Rentenaltererhöhung für Frauen auf Widerstand. Diese Ansicht ist keineswegs verkehrt, hat aber eine Kehrseite: Auch sie zementiert die reaktionäre Ansicht, wonach Frauen nicht vollwertige Arbeitskräfte seien. Am wirkungsvollsten ist der Kampf für Gleichberechtigung wohl dann, wenn künstlich geschaffene Unterschiede konsequent abgebaut werden – und zwar alle.
JULIAN ZAHND
J.ZAHND@FRUTIGLAENDER.CH