Wie entsteht ein Medikament?
02.03.2021 GesundheitDie Entwicklung und Zulassung der Corona-Impfstoffe lief in den letzten Monaten im Schnellzugstempo ab – ein Prozess, der sonst Jahre dauert. Zeit also, in aller Ruhe einen Blick auf die komplexen Entwicklungsschritte wirksamer und sicherer Arzneien zu werfen.
Hunderte ...
Die Entwicklung und Zulassung der Corona-Impfstoffe lief in den letzten Monaten im Schnellzugstempo ab – ein Prozess, der sonst Jahre dauert. Zeit also, in aller Ruhe einen Blick auf die komplexen Entwicklungsschritte wirksamer und sicherer Arzneien zu werfen.
Hunderte von Wissenschaftlern und Medizinern suchen in einem jahrelangen Prozess nach einem neuen Medikament. Von der Grundlagenforschung bis hin zur Markteinführung ist ein immer grösserer Entwicklungsaufwand nötig, und Tausende neuer Arzneikandidaten müssen auf dem Weg über die Klinge springen.
Weil Arzneimittel – definiert als «Produkte zur Erkennung, Verhütung oder Behandlung von Krankheiten, Verletzungen und Behinderungen» – zum Einsatz an Mensch oder Tier vorgesehen sind, werden an ihre Wirkung, Verträglichkeit und Sicherheit äusserst hohe Anforderungen gestellt. Sie greifen in normale Funktionen im Körper ein, werden teilweise über Jahre oder Jahrzehnte eingenommen oder müssen im Akutfall Leben retten.
Je nach Quelle dauert die Arzneimittelentwicklung 7 bis 15 Jahre und verschlingt 0,6 bis 2,7 Milliarden US-Dollar. Die Suche nach einem neuen, innovativen Wirkstoff ist besonders teuer – und dabei müssen auch fehlgeschlagene Projekte mitfinanziert werden.
Phase 1: Die Suche nach geeigneten Kandidaten
Chemiker, Biologen, Biochemiker, Biostatistiker und Pharmakologen liefern Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung verschiedener Wissenschaften. Sind biochemische Abläufe und mögliche Zielstrukturen (Wirkorte, Rezeptoren) bekannt, beginnt die Suche nach geeigneten Wirkstoffen. Die Forscher durchforsten zunächst computergestützt riesige Molekülbibliotheken und testen am Bildschirm passende Strukturen an 3D-Modellen. Biochemische Reihenversuche, Zellkulturen und chemische Modifikationen helfen beim Herausfiltern vielversprechender Substanzen.
Nach dieser ersten, etwa drei- bis fünfjährigen Forschungsphase schaffen es von über einer Million möglicher Substanzen etwa 5000 bis 10 000 in die nächste Runde.
Phase 2: Potenzielle Wirkstoffe auf dem Prüfstand im Labor
Nur wenige von den Tausenden möglicher Kandidaten werden in den folgenden ein bis zwei Jahren weiter unter die Lupe genommen. 20 bis 50 Substanzen müssen nun ihre erwartete Wirkung unter Beweis stellen, um vor der ersten Anwendung am Menschen das Gütesiegel «sicher und verträglich» zu bekommen. An Zell- und Gewebekulturen oder isolierten Organen im Labor wird ihre Wirkung auf Herz und Nieren geprüft. Wirken sie wie erwünscht? Wie wirken sie? Und gibt es potenziell toxische Effekte (Genveränderungen oder krebserregende Schädigungen)?
Weil einzelne Ergebnisse aus dem Reagenzglas nur bedingt auf einen komplexen Organismus übertragbar sind, muss der Nachweis der im Labor positiv getesteten Substanzen anschliessend im Tiermodell untersucht werden. Wie verhält sich die Substanz im lebenden Organismus? Können schädliche Nebeneffekte auf Zellen, Gene, Organe, die Reproduktion sowie Föten ausgeschlossen werden? Seit 1983 konnten Tierversuche in der Schweiz um über 70 Prozent reduziert werden, auch dank immer häufiger eingesetzter digitaler Technologien. Computerbasierte Simulationen oder künstliche Miniaturorgane aus Stammzellen («Organe auf dem Chip») haben grosses Potenzial und können in Zukunft zunehmend Tierversuche ersetzen.
Phase 3: Der Mensch kommt ins Spiel
Inzwischen ist das Teilnehmerfeld der Wirkstoffkandidaten auf etwa zehn geschrumpft. Zunächst werden diese an gesunden freiwilligen Probanden untersucht, damit genaue Erkenntnisse über ihre Effekte, die Verteilung im Körper, ihren Stoffwechsel und die Ausscheidung erlangt werden. Danach folgt die Prüfung an ausgewählten Patienten unter kontrollierten Bedingungen und enger medizinischer Kontrolle. Die klinischen Studien folgen einem klar definierten, streng regulierten und überwachten Ablauf.
Im ersten Schritt erfolgt die erstmalige Anwendung am gesunden Menschen. Sicherheit und Verträglichkeit werden an 10 bis 100 gesunden Menschen untersucht: Was macht der Körper mit der Substanz – und was die Substanz mit dem Körper? Vier von fünf geprüften Arzneien fallen durch und kommen nicht in die nächste Runde.
Die erfolgreichen Kandidaten werden im zweiten Schritt an Patienten (Dutzende bis Hunderte) getestet. Das Augenmerk liegt auf der Bestätigung des gewünschten therapeutischen Effekts sowie auf der Sicherheit für die Patienten. Vergleichende Prüfungen in verschiedenen Dosierungen führen zur optimalen Dosisfindung. Der Vergleich neuer Medikamente in einer bestehenden Therapiegruppe mit der bestmöglichen zugelassenen Standardtherapie («Gold-Standard») zeigt den erwarteten Nutzen – oder nicht. Für die in dieser Phase geprüften Medikamente besteht eine etwa 30-prozentige Wahrscheinlichkeit einer späteren Marktzulassung.
Der wichtige dritte Schritt entscheidet über den Erfolg, als Medikament «Karriere zu machen». Für knapp zwei Drittel besteht Hoffnung auf einen Markteintritt, falls der Wirkungs- und Sicherheitsnachweis an einigen Hundert bis mehreren Tausend Patienten erfolgreich ist. Die breit angelegten Schlüsselstudien dauern bis zu vier Jahre und sollen die Basis für die Zulassung legen. Patienten werden zufällig in Gruppen eingeteilt und therapiert, ohne dass sie und die Prüfleiter wissen, ob das Prüfoder Vergleichsmedikament verabreicht wird (doppelblind). Die Durchführung der Studien erfolgt sehr oft nach identischem Protokoll an verschiedenen Orten.
Die relevante Phase-3-Studie für die Zulassung des BioNTech / Pfizer-Corona-Impfstoffs basierte auf 43 500 Probanden und weltweit 152 Studienzentren.
Phase 4: Markteinführung und -überwachung
Sind alle Tests bestanden, gilt das Medikament nach wissenschaftlich etablierten Kriterien als wirksam und unbedenklich. Es folgt der Antrag für den geprüften Anwendungsbereich bei der Zulassungsbehörde (Schweiz: swissmedic; Europa: Europäische Arzneimittelagentur EMA).
In der anschliessenden Phase IV sind die Pharmafirmen verpflichtet, Erfahrungen zu Sicherheit und Verträglichkeit aus dem klinischen Einsatz systematisch zu erfassen und vor allem seltene, unerwünschte Wirkungen aus der Langzeiterfahrung zu melden.
In fortgesetzten klinischen Studien können neue Indikationen oder der Einsatz bei speziellen Patientengruppen (Schwangeren, Kindern oder Patienten mit zusätzlichen Erkrankungen) geprüft und beantragt werden. Auch können die Behörden eine Zulassung anpassen oder in seltenen Fällen (10 Prozent) widerrufen.
«Der Investitions- und Zeitaufwand zur Entwicklung eines neuen Medikaments ist erheblich – und der Erfolg von vielen Faktoren abhängig […]. Die Erfolgsrate für neue Medikamente, die letztlich zugelassen zu werden, ist sehr gering. Von 10 000 Kandidaten erreicht am Ende tatsächlich nur einer den Markt», schreibt Interpharma Schweiz.
BEAT INNIGER, OFFIZIN-APOTHEKER FPH, ADELBODEN
Mehr Informationen erhalten Sie online unter www.frutiglaender.ch/web-links.html
Wettlauf mit der Pandemie im Nacken
Die eindrücklich rasche Entwicklung und Zulassung der Corona-Impfstoffe kann verständlicherweise Skepsis auslösen.
Was sonst eigentlich Jahre dauert, wurde hier innert Monaten vollbracht. Unter dem erdrückenden Diktat einer weltweiten Pandemie mit gravierenden gesundheitlichen Belastungen und einschneidenden wirtschaftlichen Konsequenzen geschah schier Unmögliches. Mit einer beispiellosen Kooperation von Regierungen, Behörden, der Wissenschaft und der Pharmaindustrie liefen Schritte, die normalerweise einer nach dem anderen folgen, parallel und auf Hochtouren. Studienresultate wurden fortlaufend publiziert, von Zulassungsbehörden begutachtet und dank Risikokapital konnten Produktionslinien aufgebaut werden, bevor überhaupt ein einziger Impfstoff zugelassen war.
Inzwischen sind den neu entwickelten Impfungen weniger schwere Covid- 19-Verläufe und tiefere Todesraten zu verdanken. Bald kommen möglicherweise auch neue (alte) Freiheiten hinzu. Wie lange der Impfschutz anhält, wird die Zukunft zeigen.
BI