Jedem zehnten Gastronomie-Lehrling fehlt aufgrund der Pandemie die Berufspraxis. Für Noel Reusser (Adelboden) und Filmon Teklu (Kandersteg) gilt das nicht. Sie haben genug zu tun – allerdings aus unterschiedlichen Gründen.

BIANCA HÜSING
Keine Frage: Das Gastgewerbe verschafft sich Gehör. Die Branchenverbände werden nicht müde, auf ihre zweifellos schwierige Lage hinzuweisen und Öffnungen zu fordern. Was in all den Mitteilungen jedoch selten zur Sprache kommt, ist die Ausbildung des Nachwuchses. Dabei sind Lehrlinge zurzeit gleich mehrfach gestraft: Ohne Gäste fehlt ihnen die Berufspraxis, was einerseits die Abschlussprüfung erschwert und andererseits zu Nachteilen bei der Stellensuche führen könnte. Auch ist nicht absehbar, wie viele Betriebe es durch die Krise schaffen werden – wie gross der Arbeitsmarkt für die Absolventen am Ende also überhaupt sein wird. Zukunftsängste sind angesichts dieser Ungewissheit nur allzu verständlich, vor allem dann, wenn die Tagesstruktur fehlt und viel Zeit zum Grübeln bleibt.

Laut dem «LehrstellenPuls» der ETH Zürich erhielten im Januar neun Prozent der Schweizer Gastro-Lernenden keinerlei praktische Ausbildung. Zunehmend zeigten sich die Betriebe besorgt, dass ihre Lehrlinge den verpassten Stoff nicht mehr rechtzeitig aufholen können.

Hilfe vom Hotel
Auch Noel Reusser war zeitweise vom fehlenden Praxisbezug seiner Lehre betroffen. Im November legte der Adelbodner «Alpenblick», wo er sich zum Restaurationsfachmann ausbilden lässt, seine übliche Betriebspause ein. Und kaum hatte das Lokal wieder geöffnet, da kam auch schon der Corona-Shutdown.

Dabei wäre der 20-Jährige eigentlich auf Gäste angewiesen. Beraten, servieren, flambieren und tranchieren – all das lässt sich ohne Kundschaft schliesslich nicht authentisch üben. «Ich konnte zwar beim Vorbereiten und Abpacken der Take-away-Gerichte helfen, aber mit meinem eigentlichen Lehrberuf hatte das natürlich nur wenig zu tun», sagt Reusser. Über diese Situation war auch Restaurantchef Björn Inniger alles andere als glücklich – auch wenn er die Zeit zunächst gut überbrücken konnte. «Da Noel bereits eine Kochlehre abgeschlossen hat, konnte er uns über Weihnachten und Neujahr sehr gut unterstützen. Als aber der Lockdown noch verlängert wurde, mussten wir umdenken.»
Damit sich sein Lehrling besser auf die Prüfungen vorbereiten konnte, bat Inniger kurzerhand das Parkhotel Bellevue um Unterstützung – mit Erfolg. Seit drei Wochen arbeitet Noel Reusser dort an der Bar und im Frühstücksservice mit. Im Gegensatz zu Restaurants dürfen Hotels ihre Gäste vor Ort bewirten. Der angehende Restaurationsfachmann ist dankbar für diese Chance, im Endspurt noch einmal wertvolle Erfahrungen zu sammeln. Vieles übe er zwar auch zu Hause, etwa das Eindecken des Tisches, den Weinservice oder das Flambieren am Beistelltisch, dem sogenannten Guéridon. «Aber ohne echten Gast ist es einfach nicht dasselbe», meint Reusser. Im «Bellevue» kann er voraussichtlich bis Ende März bleiben. Und im Mai soll plangemäss die praktische Prüfung stattfinden – auf welche Art auch immer.

Zukunftsängste plagen den Lehrling trotz Corona aber nicht. «Während des ersten Lockdowns im Frühling war mir schon etwas bange zu Mute. Es war schwierig einzuschätzen, ob die Gäste wiederkommen würden.» Doch die überaus starke Sommersaison habe ihm wieder Mut gemacht. «Sie bestätigte mir, dass das Bedürfnis der Menschen immer da sein wird, gut zu essen oder in einem Hotel zu übernachten.» Auch sein Ausbildner macht sich um die aktuelle Lehrlingsgeneration keine grossen Sorgen. «Nach der Ausbildung fängt das Arbeitsleben erst richtig an. Mit Willen und Ehrgeiz kann man die paar Monate sehr schnell aufholen», ist Björn Inniger überzeugt.

Nur beim Deutschlernen ein Problem
Für Filmon Teklu hat sich durch den Shutdown nicht allzu viel geändert – zumindest nicht in beruflicher Hinsicht. Der 20-Jährige macht zurzeit eine Attestlehre zum Koch, die er noch in diesem Jahr abschliessen will. Sein Ausbildungsbetrieb, «Nico's Restaurant» in Kandersteg, hat durch die Hotelgäste des «Alfa Soleil» meistens genug zu tun. Und für den Fall, dass mal nicht so viel los ist – wie zuletzt im Januar –, bleibt ihm immer noch die Onlinekundschaft. «Aufgrund unseres Lieferdienstes kann Filmon weiterhin wichtige Praxiserfahrungen sammeln», erklärt Restaurantinhaber Nico Seiler. «Denn die Gerichte, die wir auf unserer Website anbieten, sind auch Prüfungsgerichte.» Ansonsten werde sein Lehrling in internen und externen Probeläufen vorbereitet, und auch die Mitarbeiteressen seien immer eine gute Gelegenheit, prüfungsrelevante Menüs zu kochen. Zu Hause üben muss Filmon Teklu daher nicht – abgesehen von der Theorie, versteht sich. Auch die Schule findet inzwischen wieder wie gewohnt statt.
«Mein Alltag ist also eigentlich normal. Ich arbeite 43 Stunden die Woche und fühle mich gut auf die Abschlussprüfung vorbereitet», meint der Eritreer, der seit viereinhalb Jahren in der Schweiz lebt und vor zweieinhalb Jahren ins Frutigland gekommen ist. Einzig seine Deutschkenntnisse litten ein wenig unter der Situation – man sei schliesslich viel seltener unterwegs.

Ob Corona ihm und anderen Gastronomie-Lernenden die Zukunft verbaut, können zurzeit weder Teklu noch sein Chef abschätzen. «Das wissen die Götter», so Nico Seiler. «Geholfen hat es jedenfalls nicht.»

Es braucht das Engagement der Betriebe
Noel Reusser und Filmon Teklu gehören offenbar zu den Glücklichen unter den diesjährigen Lehrabgängern. Dass es nicht jedem so geht, ist ihnen bewusst. «Einige meiner Klassenkameraden haben aktuell überhaupt keine Arbeit», bestätigt Reusser. Doch wie die Beispiele aus der Region zeigen, lassen sich mit zusätzlichem Engagement durch Lehr- oder Partnerbetriebe durchaus Lücken schliessen – und das ist ganz im Sinne von Bruno Lustenberger (GastroSuisse): «Die Betriebe müssen sich um ihre Lehrlinge kümmern und mit ihren Kontakten dafür sorgen, dass niemand im Sommer auf der Strasse landet», lässt er sich im «Tages-Anzeiger» zitieren. Auch die ETH-Forscher plädieren für zusätzliche Massnahmen, damit aus der Situation kein benachteiligter «Corona-Jahrgang» erwächst. In diversen Kantonen werden inzwischen zusätzliche Praxiskurse angeboten, unter anderem in Bern (siehe Kasten). Doch im Frutigland scheint man auf das Angebot noch nicht angewiesen zu sein.

Praxistage in Berner Hotels

Dass die Pandemie den Gastro-Nachwuchs besonders trifft, ist auch dem Kanton Bern nicht entgangen. Gemeinsam mit Hotel & Gastro formation Bern lancierte er deshalb das Projekt «Sicherung der Berufsabschlüsse 2021 Hotellerie und Gastronomie». Seit Mitte Januar können Gastro-Lernende im Berner Novotel und in umliegenden Betrieben Praxiserfahrungen sammeln. In Fünfergruppen werden sie jeweils von erfahrenen Berufsbildnern gecoacht und auf ihre Prüfungen vorbereitet. Laut Auskunft der Bildungsdirektion nehmen aktuell 88 Lernende teil, darunter angehende Köche, Restaurationsfachleute und auch eine Hotelkommunikationsfachfrau.
Frutigländer haben sich bislang noch keine angemeldet.
Insgesamt soll das Angebot für 19 Wochen bestehen. Die Kosten teilen sich Bund, Kanton und Hotel & Gastro formation Bern. «Für die Lehrbetriebe entstehen keine zusätzlichen Kosten», versichert die Bildungsdirektion. Die Lernenden müssten allerdings die Reisekosten tragen.

HÜS

Mehr Informationen erhalten Sie online unter www.frutiglaender.ch/web-links.html

«Ohne Gäste ist es nicht dasselbe»

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