BAUCHGEFÜHLE - Aus dem Ruder gelaufen
13.04.2021 KolumneAus dem Ruder gelaufen
Sicher kennen Sie alle die symbolträchtigen drei Affen: Der eine will nichts hören, der zweite nichts sehen, und der dritte nichts sagen. Nur zu gerne wenden wir die Augen von Tatsachen ab, verschlies sen die Ohren vor mahnenden Worten und erheben ...
Aus dem Ruder gelaufen
Sicher kennen Sie alle die symbolträchtigen drei Affen: Der eine will nichts hören, der zweite nichts sehen, und der dritte nichts sagen. Nur zu gerne wenden wir die Augen von Tatsachen ab, verschlies sen die Ohren vor mahnenden Worten und erheben nicht unsere Stimme, um dem Unheil Einhalt zu gebieten. Auf gut Deutsch heisst das nichts anderes, als Unbequemes nicht wahrhaben zu wollen. Bedingungslose Loyalität ist einfacher zu leben als Zivilcourage an den Tag zu legen.
Erinnern Sie sich noch an den Asbestskandal? Asbest wurde bereits in der Antike und im Mittelalter verwendet, jedoch nur in geringem Umfang. Ab dem Jahr 1900, mit der Patentierung von Eternit, boomte dieser Werkstoff ganze 90 Jahre lang, obschon die Asbestose bereits bekannt war und nach dem Zweiten Weltkrieg seine krebserregende Wirkung erkannt wurde. Doch erst ab 1990 wurde der Einsatz von Asbest in Europa verboten. Oder denken Sie an DDT, das Insektenschutzmittel, für dessen Entdeckung der Schweizer Paul Hermann Müller 1948 sogar den Nobelpreis in Medizin erhielt, das aber schon 1972 in der Schweiz wieder verboten wurde. Man hatte festgestellt, dass DDT die Vogelwelt schädigt, zudem geriet es in Verdacht, bei Menschen Krebs auszulösen.
Haben wir aus solchen Beispielen gelernt, dass der Blick über unsere Nasenspitze hinausführen sollte, nicht nur euphorisch Neuentdeckungen auf den Markt zu schleudern, bevor alle Folgen bis ins Detail abgeklärt sind? Nein, denn sonst hätten wir das Riesenproblem mit dem Mikroplastik schon viel früher ernst genommen oder die Verunreinigung unseres Trinkwassers mit Pestiziden, die Klimaerwärmung durch CO2-Ausstoss, das Abholzen der Regenwälder, die Bodenerosion ... Aber da viele Politiker von Markt und Aktien beeinflusst werden und der kultivierte Teil der Menschheit dem Materiellen verfallen ist, verliert die Natur je länger, je mehr ihr Recht auf respektvollen Umgang.
Zu beschönigen gibt es da gar nichts! In diesem Jahr haben hochkarätige Ökologen in einem ausführlichen Bericht Stellung zur derzeitigen Umweltsituation genommen: «Das Ausmass der Veränderungen in der Biosphäre mit all ihren Lebensformen – einschliesslich der Menschheit – ist so gross, dass es sogar für gut informierte Experten schwierig zu begreifen ist.» Mit unseren eigenen Augen lassen sich massive negative Veränderungen in der Natur feststellen, vorausgesetzt wir begegnen ihr mit offenen Augen. «Weltweit verlieren wir derzeit rund dreimal das verbleibende Gletschervolumen der europäischen Alpen – und das jedes Jahr», stellt der bekannte Glaziologe Michael Zemp fest. Oder der Verlust der Artenvielfalt in Fauna und Flora? Mehr als die Hälfte der fliegenden Insekten haben wir unter anderem durch Pestizide verloren. Noch schlimmer: Auch Tiere wie der Sperber wurden als Letzte in der Nahrungskette durch das Verspeisen von DDT-verseuchten Singvögeln beinahe ausgerottet.
Mein Bauchgefühl sagt mir ganz klar, dass es an der Zeit ist, endlich durchgreifende Veränderungen gegen den Willen der Politiker und Lobbyisten einzuleiten, ihre Angstmacherei zu negieren und uns zugunsten der Natur, unserem Lebensraum, stark zu machen. So radikal und unbequem die Trinkwasser- und Pestizidinitiativen auch wirken mögen – wir haben keine Zeit mehr, der Handlungsbedarf ist unaufschiebbar. Wir müssen unseren Gürtel enger schnallen, lernen zu verzichten, wieder massvoll werden. Unsere Intelligenz, unsere Habsucht, unser Grössenwahn und unsere Machtansprüche überfordern die Natur!
YVONNE SCHMOKER
YSCHMOKER@BLUEWIN.CH