Wir leben in einer verrückten Zeit!
01.04.2021 GesellschaftGEDANKEN ZUM FEST Vieles befindet sich zurzeit nicht an seinem angestammten Platz. Das verunsichert. Für Pfarrerin Regula Dürr lädt Ostern dazu ein, Situationen neu anzuschauen. Ihre Botschaft: Wir sind nicht ausgeliefert.
Wir erleben spezielle Zeiten. Wir begegnen ...
GEDANKEN ZUM FEST Vieles befindet sich zurzeit nicht an seinem angestammten Platz. Das verunsichert. Für Pfarrerin Regula Dürr lädt Ostern dazu ein, Situationen neu anzuschauen. Ihre Botschaft: Wir sind nicht ausgeliefert.
Wir erleben spezielle Zeiten. Wir begegnen einander in Distanz und berühren einander kaum. Wir sind ins Homeoffice verbannt, machen Onlinesitzungen und tragen Masken. Singen ist verboten. Gemeinsame Feste werden reihenweise abgesagt. Niemals hätte ich gedacht, dass wir je einmal so aussergewöhnliche Tage, Wochen und Monate erleben. Das ist verrückt, oder?
Ich meine es im wahrsten Sinn des Wortes «ver-rückt». In unserem Alltag ist so einiges ver-rückt. Im Wörterbuch lese ich weitere Umschreibungen wie «umsetzen, umstellen, verschieben, versetzen». Das ist, wie wenn in der Wohnung die Möbel ver-rückt wären: das Bett in der Küche, die Kommode im Badezimmer, die Bilder verkehrt an den Wänden, die Kaffeemaschine im Kleiderschrank. Wer würde in einer solchen Wohnung auf Dauer nicht verrückt werden? Nichts ist mehr am alten Platz. Gewohnheiten können nicht gelebt werden. Die alte Ordnung gilt nicht mehr. Es ist ein Durcheinander. Dieser Ausnahmezustand, der uns Ausdauer und Kreativität abverlangt, geht schon über ein Jahr. «Ein Marathon», wie der Bundesrat uns voraussagte, «und nicht ein 100-Meter-Lauf».
Im Gedicht des katholischen Theologen, Autor und Dichters Lothar Zenetti (1926 – 2019) steht:
Seht, der Stein ist weggerückt,
nicht mehr, wo er war,
nichts ist mehr am alten Platz,
nichts ist, wo es war.
Halleluja.
Diese Zeilen legt der Dichter den drei Frauen in den Mund. Der Stein vor dem Grab ist ver-rückt! Die Frauen erleben im ersten Morgenlicht am Grab Jesu eine verrückte Zeit. Im Markusevangelium (siehe Kasten) lesen wir von ihnen, wie sie den Leichnam Jesu drei Tage nach seinem Tod salben wollen. Der grosse Stein, der den Eingang der Grabhöhle schützt, ist weg und gibt den Weg frei ins Grab. Sie nehmen allen Mut zusammen, gehen einige Schritte vorwärts und wagen den Blick in die Höhle. Was erwartet sie da? Es ist dunkel, ungemütlich feucht. Wie wenn ihre Trauer um ihren Freund Jesus nicht schon genug wäre – jetzt auch noch das!
Wenn Steine rücken, entsteht Unsicherheit. Das Kandertal ist reich an losem Gestein und Geröll. Ein Kandersteger sagte kürzlich zu mir: «Weisst du, wir leben damit. Das gehört dazu, wenn du in den Bergen lebst. Es kann jederzeit einen Hangrutsch oder Felsabsturz geben. Das muss nicht in jedem Fall bedrohlich sein.» Wir haben über den «Spitzen Stein» gesprochen, der mit seinen Zacken über dem Dorf thront. Ich staune über die Gelassenheit meines Gegenübers, habe ich doch selber letzten Sommer das Donnern von sich lösenden Steinen hoch oben in den Felsen gehört.
Verrückte Steine stellen uns vor Tatsachen. Wir müssen sie aushalten und durchhalten. Wir wünschen sie uns weg. Aber das ist gerade das Schwierige daran: Verrückte Zeiten können nicht einfach weggewischt werden. Nein, wir sind mittendrin. Wie die Osterfrauen. Eindrücklich finde ich, wie sie mit der Situation umgehen. Sie machen nicht einfach die Faust im Sack, drehen sich um und wollen nur noch weg, auch wenn das der erste Reflex sein könnte. Nein, sie stellen sich der Tatsache. Sie betreten das Grab. Sie schaudern im feuchten Loch, schauen ins Schwarze und konfrontieren sich mit dem Unangenehmen.
In Lothar Zenettis Gedicht folgt:
Seht, das Grab ist nicht mehr Grab,
tot ist nicht mehr tot,
Ende ist nicht Ende mehr,
nichts ist, wie es war.
Halleluja!
Da ist ein Engel. Die drei Frauen begegnen ihm am dunkelsten Ort ihres Erlebens. Er verkündet ihnen: Jesus sei nicht mehr da, er sei auferstanden. Mit allem haben sie gerechnet, aber mit dem nicht. Selbstverständlichkeiten werden durchbrochen. Unmögliches soll möglich sein! «Tot ist nicht mehr tot», so schlicht beschreibt es unser Liedvers. Die Frauen sind entsetzt, wie wir im Markusevangelium lesen. Der Tote ist nicht mehr unter den Toten. Der christliche Glaube lädt ein, mit dem Unmöglichen zu rechnen, neue Wege auszuprobieren, einen kreativen Umgang mit scheinbar Unveränderlichem zu suchen.
Lothar Zenetti schliesst mit der letzten Strophe:
Seht, der Herr erstand vom Tod,
sucht ihn nicht mehr hier,
geht mit ihm in alle Welt,
er geht euch voraus.
Halleluja!
Die Osterfrauen verlassen das Grab. Ihre Erfahrung wird zur Osterbotschaft. «Wir können unsere Mentalität ändern»: Dieser Satz bleibt mir aus einem «Bund»-Artikel vom Februar in Erinnerung haften. Der Autor schreibt, dass Emotionen leichter steuerbar seien, als wir glauben. Wie wir eine Situation erleben, hängt davon ab, welche Bilder und Gedanken wir uns machen. Wie wir denken, bestimmt unsere Gefühle. Das sei wissenschaftlich erwiesen. Der Autor veranschaulicht das mit einem Beispiel: «Es lächelt nicht nur, wer glücklich ist, es fühlt sich auch zufriedener, wer lächelt.» Das Lächeln aktiviert im Gehirn bestimmte Regionen. Entsprechend sehen wir die Welt anders, als wenn wir nicht lächeln. Ermutigende Gedanken helfen, die Sicht der Dinge zu verrücken. Darin erkenne ich Österliches: Wir sind nicht ausgeliefert sondern können uns zum Unverrückbaren verhalten!
Ostern lädt ein, Situationen neu anzuschauen. Mit den Osterfrauen ins Grab zu schauen: Was lässt sich neu entdecken in der Krise, mit mehr Zeit in der Familie, durch Bewegung in der Natur, in der Neuorientierung im Beruf? Altes kann sich neu ordnen und zurechtrücken.
REGULA DÜRR, PFARRERIN, ZURZEIT IN STELLVERTRETUNG IN DER KIRCHGEMEINDE KANDERGRUND-KANDERSTEG
Aus dem Markusevangelium, Kapitel 16
Als der Sabbat vorüber war, kauften Maria aus Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um damit zum Grab zu gehen und Jesus zu salben. Am ersten Tag der Woche kamen sie in aller Frühe zum Grab, als eben die Sonne aufging. Sie sagten zueinander: Wer könnte uns den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen? Doch als sie hinblickten, sahen sie, dass der Stein schon weggewälzt war; er war sehr gross. Sie gingen in das Grab hinein und sahen auf der rechten Seite einen jungen Mann sitzen, der mit einem weissen Gewand bekleidet war; da erschraken sie sehr. Er aber sagte zu ihnen: Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus von Nazaret, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden; er ist nicht hier. Seht, da ist die Stelle, wohin man ihn gelegt hat. Nun aber geht und sagt seinen Jüngern und dem Petrus: Er geht euch voraus; dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat.