GRUND ZUR PAUSE
Mal ehrlich: Wie oft unterbrechen Sie täglich den Arbeitsprozess? Egal, wie Ihre Antwort nun ausfällt: Falls Sie Nichtraucher sind, pausieren Sie sicherlich seltener als die Kollegin, die Kette raucht, und daher einen breit akzeptierten Grund hat, ...
GRUND ZUR PAUSE
Mal ehrlich: Wie oft unterbrechen Sie täglich den Arbeitsprozess? Egal, wie Ihre Antwort nun ausfällt: Falls Sie Nichtraucher sind, pausieren Sie sicherlich seltener als die Kollegin, die Kette raucht, und daher einen breit akzeptierten Grund hat, regelmässig nach draussen zu gehen. Sie hingegen hinterfragen Ihre Arbeitsmoral womöglich bereits nach dem zweiten Gang zum Wasserhahn oder WC.
Unfair!
Wenigstens werden Raucher heutzutage von öffentlichen Innenräumen ausgesperrt, an Bahnhöfen in winzige Parzellen gepfercht, im Park mit bösen Blicken taxiert, falls der Wind in die falsche Richtung bläst. Damit kehrt ein kleines bisschen Gerechtigkeit zurück in diese Welt.
Doch damit nicht genug: Ab sofort erhalten auch KaffeetrinkerInnen einen legitimen Grund, ein Päuschen einzulegen, sogar im Homeoffice. «Coffee-Call» heisst die App, dessen Entwickler sich zum Ziel gesetzt haben, «Menschen glücklicher, gesünder und produktiver» zu machen. Wer einen «CoffeeCall» tätigt, wird nach dem Zufallsprinzip («intelligente Algorithmen») mit einer Person desselben Netzwerks verbunden und darf mit dieser ein genau zehnminütiges Gespräch führen. «Zuerst ist da die Aufregung, wer abnimmt – und dann das nette Gespräch, das einen auf andere Gedanken bringt», schwärmt ein Nutzer denn auch.
Kaum erwähnt werden derweil die Schwachstellen des Tools: Womöglich harmoniert das «CoffeeCall»-Paar nicht auf Anhieb und das Gespräch wird nach zehn Minuten auf dem Höhepunkt brüsk unterbrochen. Und was ist beispielsweise, wenn der Espresso bereits nach vier Minuten leer getrunken ist? Entfällt damit nicht automatisch die Berechtigung, am Gespräch teilzunehmen? Die letzte Frage führt uns zur eigentlichen Problematik: Die App «CoffeeCall» gibt bloss den Kaffee trinkern Grund zur Pause, alle anderen müssen sich weiterhin mit dem Wasserhahn begnügen – und mit dem schlechten Gewissen. Skandal!
Bevor nun weitere knackige Apps wie «TeaCall» oder «ToiletTalk» auf den Markt drängen, darf man sich an dieser Stelle aber ruhig mal fragen: Brauche ich wirklich immer einen Grund, um eine Pause einzulegen?
JULIAN ZAHND
J.ZAHND@FRUTIGLAENDER.CH