ASOZIALE AMEISE
Die erste Party ohne Gästezahlbeschränkung, der erste Schwatz in der Firmenkantine, das erste Fussballspiel auf einer voll besetzten Tribüne – wer nicht gerade von Natur aus Soziopath ist, wünscht sich wohl nichts sehnlicher, als wieder ungezwungen ...
ASOZIALE AMEISE
Die erste Party ohne Gästezahlbeschränkung, der erste Schwatz in der Firmenkantine, das erste Fussballspiel auf einer voll besetzten Tribüne – wer nicht gerade von Natur aus Soziopath ist, wünscht sich wohl nichts sehnlicher, als wieder ungezwungen unter Leuten zu sein. Aber Obacht: Was einst selbstverständlich war, könnte nun auch für die geselligsten Zeitgenossen zum Problem werden. Worüber will man schliesslich reden, wenn rein gar nichts passiert? Schon jetzt langweile ich meine Freunde mit Monologen über Tomatenzucht, Badezimmerbeleuchtung oder Take-away-Entdeckungen. Am Telefon können sie wenigstens auf Durchzug stellen und heimlich etwas anderes machen. Blumen giessen oder so. Doch spätestens beim ersten gemeinsamen Dinner nach Corona gibt es kein Entrinnen mehr.
Plötzlich wird man sich wieder auf andere einlassen müssen – und das kann höchst anstrengend sein. Immer mehr Menschen berichten von ihrer Angst, asozial geworden zu sein, fürchten sich vor Lärm, Gesprächsstress und Nähe. Hält man das leidige Begrüs sungsmüntschi noch aus, nachdem monatelang schon ein Händedruck zu viel war? Auch Körperpflege ist schnell verlernt. Manch ein Dauer-Homeofficler wird sich vor dem ersten Ausgang dreimal vergewissern müssen, dass er auch wirklich eine Hose trägt und keinen Jogger.
Und damit gehts ihm im Grunde wie der Ameise. Eigenlich ein höchst soziales Wesen, kann auch die Ameise mit der Zeit verkümmern und verwahrlosen. Dies legt eine aktuelle Studie deutscher und israelischer Biologen nahe. Aus 14 Kolonien hatten sie je einige Arbeiterinnen entnommen und bis zu 28 Tage isoliert. Als man sie später wieder in ihr natürliches Umfeld entliess, waren sie wie ausgewechselt. Sie interagierten weniger mit ihren Artgenossen und vernachlässigten ihre Körperhygiene. Auch ihr Immunsystem litt offenbar unter der Isolation – ein Phänomen, das man längst schon beim Menschen beobachtet hatte.
Was lernen wir daraus? Erstens: Den Tomaten-Small-Talk, die Müntschi und das Gegröle des Stadionsitznachbarn sollten wir tunlichst wieder aushalten lernen. Schon unserer Gesundheit wegen. Und zweitens: Ameisen sind auch nur Menschen.
BIANCA HÜSING
B.HUESING@FRUTIGLAENDER.CH