Er war Lehrer, Landwirt und Sittenrichter
15.06.2021 AdelbodenWie lebte es sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – zu einer Zeit, als noch kein Tourismus das Geschehen im Bergbauerndorf prägte? Eine wohldokumentierte Schrift über den damaligen Adelbodner Schulmeister Peter Hari gibt Aufschluss.
TONI KOLLER
Der ...
Wie lebte es sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – zu einer Zeit, als noch kein Tourismus das Geschehen im Bergbauerndorf prägte? Eine wohldokumentierte Schrift über den damaligen Adelbodner Schulmeister Peter Hari gibt Aufschluss.
TONI KOLLER
Der besagte Peter Hari – er lebte von 1792 bis 1866 – ist nicht nur Lehrer. Wie fast alle Adelbodner damals ist er zeitlebens auch Landwirt, denn das Schulmeistern ist in dieser Epoche noch kein ordentlich bezahlter Beruf. Dies ist nur eine von vielen heute kaum nachvollziehbaren Eigenheiten des Dorflebens im vorletzten Jahrhundert, die Peter Schranz in seiner Broschüre wiedergibt. Der Vinelzer mit Wurzeln in Adelboden, wo er auch Mitarbeiter des Dorfarchivs ist, hat die schriftliche Hinterlassenschaft des Lehrers Hari, dessen erhaltene Briefe und persönlichen Notizen mit viel Liebe zum historischen Detail aufgearbeitet. Daraus entstand – so der Untertitel des Werks – ein «Lebensbild aus Adelboden im 19. Jahrhundert».
Schulstunden = Bibelstunden
Zu Peter Haris Lebzeiten führt noch keine Strasse durchs «Entschligtal»; nach Adelboden gelangt man nur mit einem vielstündigen Fussmarsch. Dennoch bevölkern schon damals an die 1500 Einwohnerinnen und Einwohner die verschiedenen Bäuerten, wo sich auch der Schulunterricht abspielt. Vom Pfarrer dazu auserkoren, wirkt Peter Hari schon als junger Mann während einiger Jahre im Hirzboden. Dabei erscheinen die Kinder nur im Winterhalbjahr zur Schule – und jedes hat täglich ein Stück Brennholz mitzubringen, damit etwas Wärme in die karge Schulstube kommt. Der Schulstoff besteht vorwiegend aus «biblischen Wahrheiten», nämlich dem Auswendiglernen von zahlreichen Gebeten oder Psalmen.
1820 quittiert Hari den Schuldienst vorerst, was ihn finanziell wohl nicht ruiniert: 70 Franken pro Jahr verdient ein Schulmeister zu dieser Zeit. Laut dem Buch entspricht dies – auf heutige Verhältnisse umgerechnet – einem Monatslohn von 670 Franken. Wogegen ein Bauernknecht in jener Zeit immerhin mit umgerechnet 2770 Franken monatlich rechnen darf. «Dies zeigt eindrücklich die damals geringe Wertschätzung gegenüber der Arbeit des Lehrers», hält Autor Peter Schranz fest.
Komplizierter Weg zum «richtigen» Lehrer
Doch die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ist eine Zeit des Umbruchs. 1835 erlässt der Kanton Bern ein Schulgesetz; es fordert den ganzjährigen Unterricht, erweitert den Fächerkanon über das Religiöse hinaus und verbessert die Stellung der Lehrkräfte. Zur gleichen Zeit wird im Boden ein eigentliches Schulhaus fertiggestellt. Laut dem Projektbeschrieb der Bäuert Boden von 1834 soll das Gebäude «... den Besonderlichkeiten in einem wilden Thale, wie hier ist, ein Genügen leisten. Besonders will man Rücksicht nähmen auf die kleinen blöden Gewächslin, nämlich auf die öfters durch lange Wege hergekommen von Nässe und Kälte bald erstarrten Schulkinder, damit dieselben nicht wie in anderen Unterrichtsstuben über heftige Erfrierung klagen müssen.»
Hier steigt Peter Hari nun endgültig in seine Berufung als Lehrer ein – er wird ihr während 30 Jahren bis kurz vor seinem Tod treu bleiben.
Der Start verläuft zwar nicht ganz reibungslos: Das Schulgesetz verlangt von den Lehrern nun eine Ausbildung samt Patent – und ein solches hat Hari nicht. Erst nach längerem Hin und Her und einer Bittschrift aus dem Boden («Wir erlauben uns daher die angenehme Freyheit, diesen so geschätzten Lehrer (...) um Ertheilung eines Patents als Primarschullehrer ehrerbietigst und bittlich zu empfehlen») anerkennt die bernische Erziehungsdirektion endlich seine in der Praxis erworbene «Lehrbefähigung».
Liebevoll ausgearbeiteter Lehrplan
Diese stellt Peter Hari denn auch mit einem detaillierten Unterrichtsplan unter Beweis, der für seine «34 Knaben und 37 Töchterlin, zusammen 71 Kinder» gelten soll: Dieselben sind von sehr verschiedenen Gaben und daher auch von gar ungleichen Kenntnissen. Sie sind auch aus diesem Grund in drei verschiedene Klassen eingetheilt.»
Für das Fach «Schönschreiben» in der Oberklasse nimmt sich der Schulmeister vor: «Ausbildung der Schönheit der Schrift, der Geschwindigkeit im Schreiben, und der Rechtschreibung, mit genauer Beobachtung der Sauberkeit in Führung ihrer Schreibhefte. Durch die Erlernung dieses nützlichen Faches, gelangt der Mensch zur Bildung von Aug und Hand, zur Sicherheit und Geschmack an gefälligen Formen, zur Fähigkeit, seine Gedanken aufzubewahren.»
Im Rechnen verlangt Haris Unterrichtsplan von den Kindern der Mittelklasse «etwas grössere Kopfrechnungen, Aussprechen grösserer Zahlen. Erlernung des Einmaleins, und der zwei Species Addieren und Subtrahieren, etwan die Fähigsten Multiplizieren. Weiter getraue ich mir für diesen Winter mit solchen nicht zu kommen.»
Das liebste Fach war ihm aber Religion: «Dieselbe soll in jeder Volksschule Hauptsache sein, denn sie lehrt den Menschen seine Pflichten, gegen Gott, den Nächsten und sich selbst.»
Als Schulinspektor Johannes Lehner 1861 die Bodenschule besucht, scheint er von Lehrer Haris Leistungen wenig angetan. Er notiert sich etwa: «Das Lesen der Mittelklass sei singend, wie es im Adelboden Übung seie. Man solle sich das abgewöhnen, solches sei nicht schön.»
Wächter über strenge Sitten
Peter Hari ist ein tiefgläubiger Mensch. Das zeigt sich auch in seinem über vierzigjährigen Mitwirken im Vorstand – und später als Präsident – der Adelbodner Kirchgemeinde. Peter Schranz notiert: «Die Kompetenzen als Mitglied der Kirchenleitung haben sich während Haris Engagement stark verändert. Hatten die Chorrichter noch die Befugnis, Gefangenschaft bis zu drei Tagen, zehn Pfund Busse oder ein Wirtshausverbot zu verhängen, durften sie ab 1831 unter der neuen Bezeichnung ‹Sittenrichter› lediglich Ermahnungen, Zusprüche und Strafandrohungen aussprechen.» Hari wirkt von 1832 bis 1852 als Sittenrichter – als solcher ermittelt er zu ausserehelichen Schwangerschaften und geht auf die Suche nach festfreudigen Mitbürgern und Mitbürgerinnen, die teilgenommen haben an «schädlichen Zusammenkünften, wo bedeutend Wein ausgeschenkt, aufgespielt und getanzt worden sei.» Solche «Hudeleien, Abendsitze und geheime Tanzgesellschaften» duldet die Obrigkeit jener Tage nicht, und wer dabei war, wird von kirchlichen Sittenrichtern wie Peter Hari aufs Strengste gemassregelt.
So wacht die reformierte Landeskirche als verlängerter Arm des Staates über die Gottgefälligkeit des Alltagslebens. Sie tut dies mit grosser Autorität: Erst in späteren Jahrzehnten, wo sich Kirche und Staat freizügiger zeigen, gewinnen neue christliche Glaubensgemeinschaften und Freikirchen in der religiösen Landschaft Adelbodens an Bedeutung.
Schulmeister Peter Hari hat einen Sohn, er wird früh zum Witwer und ehelicht später seine langjährige Haushälterin. Um seinen Landwirtschaftsbetrieb am Laufen zu halten, beschäftigt er zumindest zeitweise einen Angestellten. Damit ist er kein «durchschnittlicher» Adelbodner seiner Zeit: Als geachtetes Mitglied einer weitverzweigten, einflussreichen Familie gehört er zur lokalen Oberschicht. Nichtsdestotrotz liefert sein Werdegang einen eindrücklichen Blick in die ärmlichen Lebensumstände, denen die Dorfleute vor zweihundert Jahren ausgesetzt waren.
Die Broschüre «Schulmeister Peter Hari, 1792– 1866» ist erhältlich bei Photo Klopfenstein in Adelboden oder beim Autor Peter Schranz in Vinelz, peter.schranz@bluemail.ch