Im «Rössli» hat’s sich ausgejasst
01.06.2021 Mülenen, EmdthalDas traditionsreiche Restaurant Rössli bleibt geschlossen. Martha Ammeter, die letzte Wirtin, verzichtete wegen Corona schweren Herzens auf einen Austrinket. Es entpuppt sich als Knacknuss, die Geschichte des 210-jährigen Gebäudes an der einst wichtigen Durchgangsstrasse vom Kanton ...
Das traditionsreiche Restaurant Rössli bleibt geschlossen. Martha Ammeter, die letzte Wirtin, verzichtete wegen Corona schweren Herzens auf einen Austrinket. Es entpuppt sich als Knacknuss, die Geschichte des 210-jährigen Gebäudes an der einst wichtigen Durchgangsstrasse vom Kanton Bern ins Wallis auszuleuchten.
KATHARINA WITTWER
Die Zurbrügg-Dynastie im Emdthal muss wohlhabend gewesen sein. Landwirtschaftsland, Gebäude, Weide und Wald in den Gemeinden Aeschi und Reichenbach waren in ihrem Besitz. In einem Text über eine «Theilung» baute 1811 ein Hans (Johannes) Zurbrügg «… ein um etwas in Mauer, grösstenteils aber aus Holz gebautes und mit Schipfen gedecktes in drei Etagen enthaltendes geräumiges Wohnhaus mit Bescheuerung (= Scheune) und hatte in Scharnachthal 22 Liegenschaften». Dabei handelt es sich ums heutige «Rössli» an der Frutigenstrasse 16 im Emdthal.
In einer anderen Quelle ist zu lesen, dass sein Enkel Jakob Zurbrügg, Uhrenmacher und «Lieutenant», eine «Wirtschaft eingerichtet hat unter dem Namen ‹Casino›, später ‹Rössli›». Das muss in den 1860er-Jahren gewesen sein. Seine Ehe mit der Witwe Elisabeth Ammeter geb. Polier blieb kinderlos. Die Frau brachte eine Tochter gleichen Namens aus erster Ehe mit, in deren Besitz die Liegenschaft später überging. Somit war die Zurbrügg-Ära zu Ende.
Spielhölle oder Restaurant?
In der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg erlebte das Bad Heustrich seine Hochblüte. Angeblich vertrieben sich gelangweilte Kurgäste die Zeit unter anderem mit Geldspiel im neu eröffneten Casino. Im Buch «Thunersee linke Seite» (Verlag Krebser Thun, 1996) ist Folgendes zu lesen: «Bevor wir in Emdthal abzweigen, kann ich Ihnen jetzt das Casino zeigen, ein wohlgefälliges Wohnhaus mit der Postablage und einer fröhlichen Wirtschaft. Die Kurgäste nannten es anfänglich nur scherzweise Casino, heute ist das sein Name – was immer das auch heissen will.» Die Postablage befand sich nie in diesem Gebäude, stattdessen während vieler Jahre im Haus gegenüber, an der heutigen Emdtalstrasse 20.
Ungewöhnliche Raumeinteilung
Das typische Frutigländerhaus hat keine Ründi. Wahrscheinlich hat Zimmermeister Christian Hari seine Lehr- und Wanderjahre im Emmental verbracht und wollte nun das Gelernte anwenden. Punkto Raumeinteilung sind jedoch grosse Unterschiede festzustellen. Bei den Emmentaler Häusern in dieser Grösse umfasst der Ökonomieteil ungefähr die Hälfte der Fläche in beiden unteren Geschossen. Über dem Gadengeschoss und auf der «Reiti» sogar die gesamte Fläche. Die Laube unter der Ründi war meist nur via Heubühne erreichbar.
Da in diesem Fall Stall und Bühne nur sehr klein gewesen sein müssen, gestaltete sich die Einteilung des Wohnteils wohl schwierig. Im Erdgeschoss sind frontseitig zwei gleich grosse Stuben. Von der einen führt eine Türe auf die Terrasse. Direkt darüber befindet sich in der Mitte ein grosses, beidseitig davon je ein kleines Zimmer. Strassenseitig führen vier Türen ins Haus. Die nördlichste war der sogenannte Knechteneingang. Bei der einen Türe fällt der kleine Windfang auf. Dieser wurde früher im Herbst montiert und im Frühling weggenommen – so wie das mit Vorfenstern gehandhabt wurde. Mehrere, teilweise äusserst steile Treppen führen ins Keller- und in die Obergeschosse.
Fast jede Generation hat umgebaut
Mehrgenerationenhaushalte mit Knechten und Mägden waren am Familientisch in ländlichen Gebieten bis vor wenigen Jahrzehnten gang und gäbe. Die Bedürfnisse der Bewohner und der Zeitgeist wandelten sich – so auch im «Rössli». Soweit möglich wurde umgebaut, ohne die Gebäudehülle zu verändern. So mussten im Laufe des letzten Jahrhunderts für die Gäste im Inneren des Hauses Toiletten mit Wasserspülung zur Verfügung stehen. Das Plumpsklo zuhinterst auf der Talseite wurde von der Familie weiterhin benutzt. Aus dem einstigen «Chuchistübli» wurde ein geräumiges Badezimmer. Auch waren in der einzigen Küche im Haus verschiedentlich Anpassungen nötig.
Aus dem nutzlos gewordenen Jungviehstall wurde irgendwann ein Pferdestall und später eine zweistöckige Wohnung. Bevor das Dachgeschoss zu einer weiteren Wohnung umgebaut werden konnte, wurde die First nordseitig verlängert.
Was alles für die Gäste getan wurde
Beim «Rössli» wurde auch gekegelt. Ab wann und wie lange sich die einfachen Leute am Sonntag auf der Freiluft-Kegelbahn vergnügten, ist nicht bekannt. Während des Zweiten Weltkrieges logierten Offiziere im Haus. Um möglichst viele Stuben zu vermieten, schliefen die Eltern mit ihren vier Kindern in einem Raum. Diese nette Episode kramt Martha Ammeter-Häfliger aus ihrer Erinnerung: «Meine Schwiegermutter führte die ‹besseren› Gäste jeweils durch die vorderste Türe direkt ins Säli, damit sie nicht Gaststube und Küche durchqueren mussten.»
Tritt man durch die Türe mit dem Windfang ins Haus, steht man in der einstigen Gaststube. «Hier haben unsere treuen Stammgäste bis am Schluss oft gejasst», erzählt die letzte Wirtin schweren Herzens. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Ernst hatte sie den Betrieb 1974 übernommen. Nach seinem Tod 2017 führte sie die Wirtschaft allein, obwohl Haus und Landwirtschaft bereits seit 2002 im Besitz ihrer jüngsten Tochter Yvonne Reichen-Ammeter sind.
Langsames Ende der Gastwirtschaft
«Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren für meine Schwiegereltern lukrativ», so Martha Ammeter. Reha-Patienten der Basler Versicherung erholten sich im Bad Heustrich und kehrten gerne hier ein. Das Restaurant war damals von Ostern bis zum Bettag täglich geöffnet.
Im Herbst 2008 wurde die Umfahrungsstrasse in Betrieb genommen. Sofort nahm der Durchgangsverkehr ab und die Spontangäste blieben aus. Seither und bis zur coronabedingten Schliessung im Dezember war die Wirtschaft bloss noch Mittwoch bis Freitag offen.
Die heutige Besitzerin ist gelernte Bäckerin-Konditorin. Ob sie in der ehemaligen Gaststube einmal Selbstgebackenes verkaufen wird, ist noch ungewiss.
«Viel originale Bausubstanz»
Das «Rössli» ist im Bauinventar der kantonalen Denkmalpflege als schützenswert eingestuft. Beschreibung: Schmucker Blockbau mit Ründi und Ründilaube. An den Hang geschobener, massiver Kellersockel. SO-seitig Hauptfassade mit zahlreichen Inschriften renoviert und teilweise erneuert. Viel originale Bausubstanz strassenseitig … Räumlich wichtiges Element im Strassenbild. Gutes Beispiel der neuen Bauformen, die in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts aus dem Unterland übernommen werden.
KANTONALE DENKMALPFLEGE