PFAFFENGRIFFEL – Der gekochte Frosch
04.06.2021 KolumneDer gekochte Frosch
Ich mistete wieder mal unser altes Auto aus. Was fand ich da, verdeckt von vergammelten Putztüchern, Corona-Masken und Bussenzetteln? Einen Küchenputzschwamm! Einen blauen, also einen von denen, die kratzen, ohne zu kratzen. Wie kommt der in die ...
Der gekochte Frosch
Ich mistete wieder mal unser altes Auto aus. Was fand ich da, verdeckt von vergammelten Putztüchern, Corona-Masken und Bussenzetteln? Einen Küchenputzschwamm! Einen blauen, also einen von denen, die kratzen, ohne zu kratzen. Wie kommt der in die Lenkwaffe? Ah klar! Als wir vor Jahrzehnten jeweils im Herbst mit den Kindern auf die Elba fuhren, war der nichtkratzende Kratzschwamm unverzichtbar. Alle hundert Kilometer hielten wir bei einem Brunnen und schabten mit viel Wasser den Insektenfriedhof von der Windschutzscheibe. Wer erinnert sich? So lange her ist das nicht.
Aber das ist auch nicht mehr wie «albe». Erstens sind die Kinder ausgeflogen, zweitens fahren wir kaum mehr mit dem Auto in den Süden, und drittens? Es hat vor allem keine Insekten mehr! Jedenfalls unheimlich viel weniger. Der werkseitige Scheibenwischer genügt, der Kratzschwamm wird pensioniert. Den Insektenmangel bestätigen ältere Lokführer. Es sei kein Vergleich zu früher, als sie regelmässig die Scheiben zu putzen hatten. Die Wissenschaft hat es bewiesen: In nur gut fünfundzwanzig Jahren hat die Biomasse der fliegenden Insekten um drei Viertel abgenommen, im Hochsommer beträgt der Schwund der lieben Brummer und Summer sogar 82 Prozent. Der «Stern» übertrieb keineswegs, als er titelte: «Dramatisches Insektensterben!»
Ich bin kein Fan der Sechsbeiner. Mir wäre es ganz wohl ohne die Viecher, aber mir läuft es kalt über den Rücken: Drei Viertel der fliegenden Insekten haben wir in 25 Jahren ausgelöscht?! Das darf nicht wahr sein! Wir Menschen sägen strohdumm am Ast, auf dem wir sitzen. Die fliegenden Insekten bestäuben unsere Nutzpflanzen. Sie dienen den Vögeln als Nahrung und den Fröschen! Ich bin kein Experte, aber man hört, dass begreiflicherweise auch viele Vögel auf der roten Liste stehen. Ich will bitte meinen Urenkeln nie erzählen müssen von der guten alten Zeit, als es noch Schmetterlinge gab! Müssten wir jetzt nicht alle in Panik geraten? Was können wir tun gegen dieses dramatische Insektensterben?! Drei Viertel sind hin, wie retten wir den Rest? Aber ich stelle nirgends Panik fest. Mit Achselzucken freut man sich über saubere Autoscheiben.
Ihr kennt die Story vom gekochten Frosch? Fällt ein Frosch in heisses Wasser, springt er natürlich blitzartig hinaus. Legt man den Frosch aber in warmes Wasser, bleibt er liegen, auch wenn man sein Bad langsam und kontinuierlich erhitzt! Er merkt nicht, was passiert und bleibt, bis seine Muskeln erstarren und er nicht mehr abhauen kann. Geht die Erwärmung langsam genug vor sich, lässt er sich kochen.
Die Story mag erfunden sein. Aber wir jedenfalls wehren uns nicht, wenn unsere Lebensgrundlage, die Natur, vergiftet wird, weil es halt lautlos und langsam passiert.
RUEDI HEINZER
RUEDI.HEINZER@GMX.CH