Anleitung für eine Festansprache
30.07.2021 GesellschaftESSAY Die meisten werden wohl ganz froh sein, am 1. August keine Rede halten zu müssen. Hans Peter Bach empfiehlt, es trotzdem einmal zu versuchen – wenigstens als Gedankenspiel. Und weil aller Anfang schwer ist, hat er gleich noch einen Tipp parat: Fussball geht immer. ...
ESSAY Die meisten werden wohl ganz froh sein, am 1. August keine Rede halten zu müssen. Hans Peter Bach empfiehlt, es trotzdem einmal zu versuchen – wenigstens als Gedankenspiel. Und weil aller Anfang schwer ist, hat er gleich noch einen Tipp parat: Fussball geht immer.
Jedes Jahr dasselbe! In zwei Tagen feiern wir den 1. August und meine Festansprache zum Bundesfeiertag ist noch nicht mal ansatzweise geschrieben. Vor mir liegt ein leeres Blatt Papier und starrt mich fragend an, was meine Fantasie jedoch in keinster Weise zu beflügeln vermag.
Vielleicht sollte ich dazu anmerken, dass ich meine Ansprache nicht etwa vor einer grossen und interessierten Festgemeinde zu halten gedenke, sondern wie jedes Jahr, nur vor meiner versammelten Familie. Aber wie hat doch schon der gute, alte Gotthelf gesagt? «Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland.»
Nun, ich will ehrlich sein: Meine Familie weigert sich schon lange, meine sorgfältig vorbereitete Rede zum 1. August anzuhören. «Zu peinlich», «zu unnötig» oder «zu nicht-relevant» sind noch die mildesten Bewertungen, die meine gut gemeinte Darbietung erreichte. So werde ich auch dieses Jahr meine Ansprache ausschliesslich vor dem Spiegel halten. Da ist wenigstens kein Widerspruch aus der aufmerksamen Hörerschaft zu befürchten, höchstens ein gequältes Lächeln, wenn ich meine Ansprache mit den Worten «Liebe Festgemeinde» beginne (was jeweils unweigerlich zum Abbruch meines Vorhabens führt).
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Bevor Sie mich nun aber als völlig durchgeknallt abstempeln und die Zeitung weglegen, möchte ich Sie freundlich bitten, dies doch selbst einmal zu versuchen. Nun, vielleicht nicht die Rede vor dem Spiegel, aber das Vorbereiten einer Ansprache zum 1. August kann sicher nicht schaden. Was hält uns zusammen, was trennt uns als sogenannte Willensnation und wie gehen wir damit um? Was macht uns zu etwas Besonderem, was verbindet uns mit anderen Nationen oder Kulturen? Die persönliche Auseinandersetzung mit solchen Fragen kann uns helfen, eine neue Sicht auf das Ganze und einen scharfen Blick auf das Streben unserer Nation zu gewinnen. Ich werde meine Ansprache vermutlich mit dem überaus erfreulichen Abschneiden unserer Nationalmannschaft an den diesjährigen Fussball-Europameisterschaften beginnen. Ein positiver Anfang mit einem guten Aufhänger rettet schon die halbe Rede, sagt man. Nicht nur der dramatische Einzug in den Viertelfinal oder die schmerzhafte Niederlage in demselben, sondern auch die integrative Bedeutung dieses glorreichen Teams möchte ich dabei hervorheben. Nach aussen und nach innen wird deutlich, dass wir in der Schweiz nicht nur Widmer und Schär, sondern auch Seferovic, Rodríguez oder Embolo heissen. Diese Vielfalt und Verbundenheit gehören zu uns wie der Schweizer Käse oder das Matterhorn. Daran kann auch die einfältige Kritik, unsere Fussballhelden hätten die Nationalhymne nicht mit genügend Begeisterung und Leidenschaft gesungen, nichts ändern.
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Damit haben wir auch schon das nächste Stichwort: unser Schweizerpsalm. «Trittst im Morgenrot daher, seh ich dich im Strahlenmeer, dich, du Hocherhabener, Herrlicher! Nah-nanah-nah-naaah-nananah-naaah-naaah ...», ahnen da viele fromme Seelen über alle Alpenfirne hinweg in unserem hehren Vaterland. «Kein vernünftiger Mensch singt sowas mit Begeisterung und Leidenschaft», wollte ich gerade aufschreiben, aber solch absonderliche Gedanken gehören wahrlich nicht in eine würdige Rede zu unserem Nationalfeiertag. Es gibt da schon einige Regeln zu beachten: Die Ansprache soll kurz und prägnant, aufbauend und wertschätzen sein, darf mit etwas Humor und allenfalls mit einer Spur Kritik an unserer Nation und unserer Kultur gewürzt sein, die aber keinesfalls übertrieben werden sollte. Es wäre zum Beispiel höchst unklug zu erwähnen, dass unser Wohlstand auf der rücksichtslosen Ausbeutung der Ärmsten auf dieser Welt und nicht etwa nur auf unserer glorifizierten Schaffenskraft oder auf dem vermeintlichen Segen Gottes gründet. Auch sollte der viel zu grosse ökologische Fussabdruck oder die allzu zögerliche Aufnahme von Asylsuchenden möglichst nicht zur Sprache kommen. Nicht am 1. August! Solche Aussagen würden die schöne, patriotische Stimmung an der Feier auf einen Schlag zerstören.
Vielmehr sollten wir die positiven Seiten unseres Landes preisen. Da würde wohl die Erwähnung der Bloomberg-Vergleichsstudie hervorragend passen, die besagt, dass die Schweizer Regierung die Covid-Pandemie in jeder Beziehung herausragend und wirkungsvoll gemeistert hat. Aber auch da gibt es (wohl zum Teil berechtigte) Kritik am Bundesrat oder (wohl niemals berechtigte) Besserwisserei und ein Referendum jagt das nächste zu diesem Thema. Hier müsste jetzt etwas Kluges, Verbindendes, Heilendes folgen, das ich meinem Spiegelbild und gefühlt der ganzen Nation ans Herz legen könnte, um die tiefen Gräben zu überbrücken und die ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Wunden zu heilen, die diese Krise verursacht hat. Aber was?
Vielleicht könnte ich hier wieder die beispielhafte Leistung unserer Fussball-Nationalmannschaft erwähnen. Der beharrliche Wille, nach Rückschlägen und mit der Niederlage vor Augen, den Erfolg dennoch mit viel Kampfgeist, Zusammenhalt und Zuversicht zu suchen, hat an der Europameisterschaft Früchte getragen und unser ganzes Land in Verzückung und Begeisterung versetzt. Ich befürchte jedoch, dass dieser Vergleich zu einfach, zu plakativ, zu pathetisch ist und dass er die Herausforderungen, das Leid und den Schaden, der diese Pandemie verursacht hat, nicht im Ansatz abzubilden vermag.
Mein Blatt ist immer noch leer und wartet geduldig auf meine Erleuchtung oder doch zumindest auf einen würdigen Anfang. Wie steht es denn bei Ihnen? Sind Sie schon einen Schritt weiter in Ihrer Ansprache, vielleicht schon bereit für den Vortrag vor der Festgemeinde, der Familie, dem Stammtisch oder dem Spiegel? Ihre zündenden Ideen, Ihre würdigen Formulierungen und Ihre verbindenden Gedanken sind wahrlich willkommen. Nicht nur am 1. August.
HANS PETER BACH, FRUTIGEN