Wildes Gewässer mit ungeheurer Erosionskraft
23.07.2021 FrutigenGESCHICHTE Seit es den Ort Frutigen gibt, hatten dessen Bewohner mit dem Leimbach zu kämpfen. Immer wieder kam es zu Überschwemmungen – bis die Gefahr im späteren 20. Jahrhundert g ebannt wurde. Heute erinnern zwei Gedenksteine an vergangene Ereignisse.
Überquert man ...
GESCHICHTE Seit es den Ort Frutigen gibt, hatten dessen Bewohner mit dem Leimbach zu kämpfen. Immer wieder kam es zu Überschwemmungen – bis die Gefahr im späteren 20. Jahrhundert g ebannt wurde. Heute erinnern zwei Gedenksteine an vergangene Ereignisse.
Überquert man von der Dorfstrasse herkommend die Leimbachbrücke, sieht man auf der linken Seite in einem Mauerstein zwei Daten eingemeisselt: den «16.VII.1938» und den «3.9.1969». Sie erinnern an die beiden letzten Überschwemmungen des Leimbachs – die einzigen seit dessen Verbauung zwischen 1906 und 1912. Beide Ereignisse verliefen ähnlich: Über Jahre hatte sich in den Gräben des Einzugsgebiets des Leimbachs viel Geröll angehäuft. Bei ausserordentlich starken Gewittern in den Sommermonaten 1938 und 1969 riss das Wasser diese Gesteinsmassen mit sich. Der obere, weite Teil des Bachlaufs konnte sie noch fassen, aber in Dorfnähe war das kanalisierte Bett zu eng. Es füllte sich rasch auf, und die Gerölllawine verschüttete die umliegenden Gärten, Strassen und Wiesen. Auch einige Keller wurden mit Steinen und Schlamm gefüllt.
Beide Male wurden die Verbauungen aufgrund dieser Erfahrungen optimiert. 1939 wurden die seitlichen Dämme oberhalb der Ziegelgassse erhöht, und 1974 wurde die grosse Rückhaltemauer etwa 200 Meter oberhalb der Hohlewäg-Brügg gebaut. Diese Mauer stellt sicher, dass auch grosse Geröllmassen zurückgehalten werden und nicht bis ins Dorf gelangen können. Sie trägt eine Tafel mit der passenden Inschrift: «RUMET DÄR SAMMLER FLISSIG US, DE SIT IHR SI-CHER AUF STRASS U IM HUS.» Damit dürfte die Gefahr des Leimbachs für das Dorf Frutigen gebannt sein.
1672 und 1800?
Neben dem eingangs erwähnten Mauerstein findet sich – längs der Strasse – ein zweiter Gedenkstein mit verwitterten Jahreszahlen, die sich lesen lassen als 1672 und 1800 (den Hinweis auf diesen unauffälligen Stein verdanke ich Ernst von Känel). Die Mauer wurde anlässlich der Leimbachverbauung erstellt, im Zusammenhang mit dem Neubau der Brücke und der Anpassung der Strasse in den Jahren 190 6/ 07. Der Gedenkstein ist aber offensichtlich viel älter als die übrigen Mauersteine, war also vorher anderswo platziert. Es ist naheliegend, dass die Jahreszahlen im Stein mit dem Leimbach zu tun haben. Zur Zeit der Leimbachkorrektion dürften die Zusammenhänge noch bekannt gewesen sein, weshalb der Stein einen Platz in der neuen Mauer bekam. Wahrscheinlich war er ehemals Teil des Widerlagers der Leimbachbrücke; eine andere Mauer gab es dort in früheren Zeiten nicht.
Niederfeld wurde mehrfach verwüstet
Die Jahrzahl 1672 könnte sich auf die Instandsetzungsarbeiten beziehen, die nach einer grossen Überschwemmung im Jahr zuvor durchgeführt worden waren. Im Landbuch von Frutigen wird berichtet: «Anno 1671 uf Jacobs Tag [25. Juli], so ein Sontag war, ist der Leimbach am Niederveld usgebrochen und hat mehr als für 10 oder 12 000 Pfund Schaden gethan.» Der Leimbach hat also damals das Niederfeld überschwemmt und sehr grossen Schaden angerichtet. Ähnliche Ausbrüche gab es auch später; aus dem 19. Jahrhundert allein sind deren zwei überliefert, die das Niederfeld verwüstet haben. Unten wurden die Geröllmassen jeweils weggeschafft, oben verzichtete man darauf. Im Guferwald liegen heute noch viele Steine als Überbleibsel solcher Ereignisse. Diese haben zum Flurnamen «Gufer» geführt, denn Gufer ist ein altes Wort für Geröll.
Zahllose Steinlawinen über Jahrtausende
Für die zweite Jahreszahl (1800) findet sich in den Akten keine Erklärung. Aus diesem Jahr wird von keinem schweren Ausbruch des Leimbachs berichtet. Vielleicht lautete die verwitterte Zahl ursprünglich 1860 oder 1866; in diesen Jahren waren kleinere oder grössere Überschwemmungen des Leimbachs und Beschädigungen der Brücke fast alljährliche Ereignisse. Diese Inschriften erinnern also an die ungeheure Erosionskraft des wilden Leimbachs, der mit zahllosen Steinlawinen über Jahrtausende den Schuttkegel gebildet hat, auf dem das Dorf Frutigen steht – und daran, dass sich die Bevölkerung seit Bestehen des Ortes gegen den Bach wehren musste.
HANS EGLI, FRUTIGEN
Quellen: Neues Berner Taschenbuch, 1899 (Auszüge aus dem Landbuche von Frutigen); Archiv Tiefbauamt Thun; Staatsarchiv Bern.