Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten
24.08.2021 Reichenbach, KientalBei schönstem Sommerwetter fand am letzten Samstag die Jubiläumsfeier der Fluggruppe Reichenbach und das «Fly-in» der Experimental Aviation of Switzerland auf dem Flugplatzgelände statt. Ein Fest für alle, die gerne den Duft von Flugbenzin in der Nase haben.
MARCEL ...
Bei schönstem Sommerwetter fand am letzten Samstag die Jubiläumsfeier der Fluggruppe Reichenbach und das «Fly-in» der Experimental Aviation of Switzerland auf dem Flugplatzgelände statt. Ein Fest für alle, die gerne den Duft von Flugbenzin in der Nase haben.
MARCEL MARMET
«Mit 60 Jahren ist man im besten Alter. Die Flegeljahre liegen zurück, man kennt das Leben und wird gelassener.» Mit dieser Aussage begrüsste Manuela Gebert, die erste Frau im Präsidentenamt der Fluggruppe Reichenbach, die zahlreichen Gäste im Hangar des Flugplatzes Reudlen. Sie verzichtete auf einen grossen geschichtlichen Rückblick. Wer wollte, konnte sich diesen anhand einer PowerPoint-Präsentation zu Gemüte führen, die den ganzen Tag über gezeigt wurde. Gebert dankte vor allem den Behörden und den Bewohnern im Tal, bei denen die Fluggruppe eine gute Akzeptanz geniesse. Es sei ein harter Kern in einer kleinen Gruppe, der sich immer wieder darüber freue, die Welt aus der Luft zu betrachten, so Gebert weiter. Anstelle einer langen Festrede gab sie sogleich das Mikrofon an den Gastredner Claude Nicollier weiter.
Hoch und schnell fliegen
Der erste und bislang einzige Schweizer Astronaut begann seinen Vortrag mit einer physikalischen Erläuterung, die den Unterschied von Aviatik und Astronautik erklärte. Dieser liegt demnach in der sogenannten «Karman-Linie», die sich auf 100 Kilometern Höhe in der Atmosphäre befindet. Alle Flüge unterhalb dieser Linie ordnete Nicollier der Aviatik zu, während die Astronautik ab dieser Höhe beginne. Nicollier wagte denn auch kein Urteil zu fällen, ob Richard Branson und Jeff Bezos bei ihren «Weltall-Trips» als Astronauten betitelt werden können. «Sie konnten bei ihren Ausflügen ins All die Schwerelosigkeit bloss ein paar Minuten erleben, bevor sie wieder in die Erdatmosphäre eintauchten. Echte Astronauten verbringen mehrere Stunden oder Tage auf einer Umlaufbahn im All», begründete Nicollier seine Einschätzung.
In seinem interessanten Referat streifte er die Höhepunkte seiner Karriere als Militär- und Linienpilot und seiner vier Weltraummissionen als NASA-Astronaut. Besonders beeindruckten ihn die Missionen am Weltraumteleskop Hubble. «Nach vier erfolgreichen Einsätzen an diesem Teleskop war es für uns Astronauten, als wenn man sich von guten Bekannten am Bahnhof verabschieden muss», sagte Nicollier scherzhaft.
Die Anfänge in den 1960er-Jahren
Wie eingangs erwähnt war der Grund für Nicolliers Besuch die Jubiläumsfeier der Fluggruppe. Am 12. Mai 1961 gründeten die vier flugbegeisterten Pioniere Hans Fischer, Kurt Lier, Hans Nyffenegger und Hermann Lang die Fluggruppe Niesen. Nach zahlreichen Verhandlungen mit der Burgerbäuert Reudlen und der Direktion für Militärflugplätze durfte die junge Fluggruppe den Militärflugplatz Reudlen ab Juni 1961 zivil mitbenutzen. Als erstes Flugzeug wurde eine alte Piper L4 mit nur 65 PS für 20 000 Franken angeschafft. In der gruppeneigenen Flugschule mit Robert Imhof als Fluglehrer erwarben viele junge Piloten ihre erste Lizenz. Durch Peter Mägert und Ueli Schneider erhielt die Fluggruppe in den 1970er-Jahren neue Akzente. Öffentlichkeitsarbeiten für die Privatfliegerei, der Rundflugbetrieb sowie die Flugschule führten zum Erfolg. Die Burger von Reudlen wurden regelmässig zu Tal- und Burger-Flugtagen eingeladen, um ihnen für die gute Zusammenarbeit zu danken. An Schüler-Flugtagen versuchte man, die einheimische Jugend für die Aviatik zu begeistern.
Die attraktive Lage des Flugplatzes in Reudlen lockte auch Piloten und Passagiere aus anderen Regionen der Schweiz an. Aviatikgruppen zeigten Interesse, ihre Trainings und Wettkämpfe im Kandertal durchzuführen. So fand 1998 die Präzisionsflug-Schweizermeisterschaft und ein Jahr später die Kunstflug-Schweizermeisterschaft hier statt.
Rückschläge und der Brand des Hangars
Durch bescheidener werdende Bedürfnisse und neue Regelungen wurde der Flugzeugpark im Jahr 1999 redimensioniert, drei beliebte Maschinen wurden veräussert. Mit den vier verbleibenden Flugzeugen wurden die Bedürfnisse an die sinkenden Mitgliederzahlen angepasst. Der wohl schlimmste Tag in der Geschichte der Fluggruppe war im November 2001. Der Hangar sowie alle vier Flugzeuge wurden durch ein Feuer völlig zerstört. Es mussten Ersatzflugzeuge organisiert werden. Die Kollegen der Motorfluggruppe Thun halfen in einer ersten Phase aus. Nach einer aufwendigen Evaluation in ganz Europa konnten wieder drei Flugzeuge angeschafft und der Flugbetrieb damit weitergeführt werden.
Aus dem bisherigen Flugplatzverein wurde 2002 eine Genossenschaft und der Flugplatz konnte der Armee abgekauft werden. Mit finanzieller Unterstützung der Genossenschafter, der Gemeinde Reichenbach und der Spar- und Leihkasse Frutigen konnte der neue Hangar mit einer Drehscheibe erstellt werden. Aktuell verfügt die Fluggruppe noch über zwei moderne Flugzeuge, welche ein gut funktionierendes Rundflugangebot und die Flugschule für die Zukunft sichern.
Über 60 selbst gebaute Maschinen
Gleichzeitig mit dem Jubiläum hielt die Experimental Aviation of Switzerland (EAS) ihr Meeting, genannt «Fly-in», in Reichenbach ab. Dabei landeten bereits am Freitagnachmittag und am Samstag über 60 Maschinen unterschiedlichster Bauart in Reudlen und wurden auf der Wiese neben dem Flugplatz aufgereiht. Eines hatten alle gemeinsam: Sie wurden, meist vom Piloten, in unzähligen Arbeitsstunden selbst gebaut. Kein Wunder, dass die Besitzer vielfach älteren Jahrgangs waren und somit bestens zum 60-jährigen Bestehen der Fluggruppe passten.
Ein paar spezielle Fluggeräte erinnerten an den britischen Kinofilm «Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten», der ebenfalls aus den 1960er-Jahren stammt. So kommentierte ein bewundernder Besucher: «Es braucht schon sehr viel Mut, selbst ein Flugzeug zu bauen und dann noch darin Platz zu nehmen und aufzusteigen!»


