FEDERLESIS – «Schisshas»
17.08.2021 Kolumne«Schisshas»
«Hesch Schiss, Mama?», fragt mein Sohnemann.
Was soll ich denn nun antworten? Ich hänge in diesem Moment ungefähr 280 Meter über Schweizer Boden. Ein Monster aus Beton neben mir, die höchste Gewichtsstaumauer der Welt. Und mein Leben hängt in ...
«Schisshas»
«Hesch Schiss, Mama?», fragt mein Sohnemann.
Was soll ich denn nun antworten? Ich hänge in diesem Moment ungefähr 280 Meter über Schweizer Boden. Ein Monster aus Beton neben mir, die höchste Gewichtsstaumauer der Welt. Und mein Leben hängt in Anbetracht dessen an einem Fädeli, na ja, immerhin an einem Drahtfädeli, etwa 700 Meter lang: an der Tyrolienne der Staumauer «Grande Dixence» im Wallis.
Mein Ausflug ans Drahtseil war so nicht geplant. Aber weil Mann und Sohn zu schwer sind für eine gemeinsame Nervenkitzelfahrt und Sohn alleine das vorgeschriebene Mindestgewicht nicht auf die Waage bringt, meinte die Frau bei der Materialausgabe in charmantem Französisch: «C’est à vous, Madame!»
Madame schaut sich kurz nach einem Fluchtweg um. Doch abhauen geht nicht. Kneifen ist auch nicht drin. Totstellen wäre eine Option … Aber so weit komme ich gar nicht, weil die Materialdame mein Lebendgewicht bestimmen will und mich entschlossen zur Waage begleitet. Und ehe ich mich's versehe, werden die Gurte vom Klettergstältli angezogen und mir ein feuchter Helm mit dem Angstschweiss eines Überlebenden übergestülpt. Angewidert verziehe ich das Gesicht. Das sei nur Desinfektionsmittel, meint die Dame der Materialausgabe. Wer hätte gedacht, dass so eine Pandemie für einen ganz kurzen Augenblick ihre Vorteile haben kann. Kurz darauf befinde ich mich also in der anfangs beschriebenen Situation. Ich hänge am Haken.
Eine weitere Dame, diesmal die «Fachfrau Tyrolienne», bereitet alles vor, damit wir von einem Sturz in den Abgrund verschont bleiben. Bleibt zu hoffen, dass sie wirklich weiss, was sie da tut, meldet sich mein Kontrollzentrum. Hat sie auch nichts übersehen?
«Ähh, das ist so ein wiederkehrender Albtraum, nicht wahr. Man fährt los und bemerkt plötzlich, dass man noch gar nicht richtig gesichert ist …», krächze ich. «Ich versichere Ihnen, Sie träumen nicht und Sie sind bestens gesichert, Madame.» Schon wieder dieses «Madame». Langsam komme ich mir vor wie eine der hysterischen «Madames», die man seinerzeit mit verbundenen Augen in einer Sänfte über die Gemmi tragen musste. Also reiss dich zusammen!
Angst im Alter ist Kopfsache, rede ich mir zu. Leute, die sich auf Neues einlassen, steigern den Blutfluss im Gehirn… Üben Sie sich in Dankbarkeit und geniessen… Seit wann bist du eigentlich so ein Angsthase, frage ich mich.
«Eh-ben, seit wir Kindern aben …», sagt mein welscher Mann.
Eh-ben, schliesslich dient der Mutterinstinkt der Erhaltung der Art, rechtfertige ich mich. Und ich hänge hier schliesslich mit meinem Nachkommen! Die Schisshasen von heute sind letztlich die Vorfahren von morgen, habe ich gelesen! Somit zu deiner Frage, mein Sohn: «Ja.»
ANDREA BALMER-BEETSCHEN
ANDREA.BEETSCHEN@BLUEWIN.CH