WELCHE NORMALITÄT?
Jeder hat Überzeugungen, Dinge, die er für gut und richtig hält. Ich weiss nicht, was es bei Ihnen ist. Vielleicht glauben Sie an Jesus Christus. Oder an die freie Marktwirtschaft. Vielleicht sind Sie überzeugt, dass zu einer guten Ernährung Fleisch ...
WELCHE NORMALITÄT?
Jeder hat Überzeugungen, Dinge, die er für gut und richtig hält. Ich weiss nicht, was es bei Ihnen ist. Vielleicht glauben Sie an Jesus Christus. Oder an die freie Marktwirtschaft. Vielleicht sind Sie überzeugt, dass zu einer guten Ernährung Fleisch gehört. Und würde man Sie in eine Diskussion darüber verwickeln, würden Sie Ihre Einstellungen vermutlich verteidigen.
Die Sache ist: Was Sie für richtig und «normal» halten, ist in vielen Fällen reiner Zufall. Hätte der Klapperstorch Sie ein paar Tausend Kilometer weiter östlich abgesetzt, wären Sie wohl gläubiger Moslem. Als junge Frau in Bangladesch, die 80 Stunden pro Woche billige T-Shirts zusammennäht, hätten Sie zur freien Marktwirtschaft möglichweise eine andere Meinung. Wenn Sie überhaupt eine hätten. Und lebten Sie in Indien, wäre eine vegetarische Ernährung für Sie völlig normal – schon gar nicht kämen Sie auf die Idee, Kühe zu schlachten.
Aber es ist nicht nur der Ort der Geburt, der unser Glaubens- und Wertesystem prägt – es ist auch die Zeit, in der wir leben. 1970 hatten Frauen in der Schweiz kein Stimmrecht. Nahezu 100 Prozent der Schweizer gehörten einer Landeskirche an (heute sind noch knapp ein Viertel reformiert undein Drittel katholisch). Dass Kinder in der Schule von ihren Lehrern geschlagen wurden, war allseits akzeptiert. Ebenso üblich war es, italienische Mitbürger abfällig «Tschinggen» zu nennen. All das war normal.
Auch wenn sich vielleicht mancher diese «gute alte Zeit» zurückwünscht, so gelten heute offensichtlich andere Massstäbe. Vieles, was vor wenigen Jahrzehnten gesellschaftlicher Konsens war, ruft mittlerweile Verwunderung, Entsetzen oder Spott hervor.
Wohlgemerkt, ich habe nichts gegen Prinzipien und Grundsätze. Auch ich habe Standpunkte, die mir wichtig sind und von denen ich nicht abrücken möchte. Genauso gibt es Entwicklungen, mit denen ich hadere – manchmal einfach aus Trotz, weil sie meinen Vorstellungen von Normalität nicht entsprechen. Aber eben: Die Normalität gibt es nicht. Es gibt nur meine Normalität, die Summe dessen, was ich für sinnvoll und richtig halte, aus welchen Gründen auch immer. Der Rest ist in einer Demokratie Verhandlungssache. Auch wenns manchmal schwerfällt.
MARK POLLMEIER
M.POLLMEIER@FRUTIGLAENDER.CH