Der Schritt ins ewige Licht
28.09.2021 KolumneBAUCHGEFÜHLE
Geburt – Leben – Tod: die Eckpfeiler unseres Lebens! Was wir daraus machen, ist uns überlassen, immer im Rahmen unserer Fähigkeiten, Gesundheit, Umgebung, mentalen und physischen Stärken. Vor wenigen Tagen ist meine Mutter hundertdreijährig ins ewige ...
BAUCHGEFÜHLE
Geburt – Leben – Tod: die Eckpfeiler unseres Lebens! Was wir daraus machen, ist uns überlassen, immer im Rahmen unserer Fähigkeiten, Gesundheit, Umgebung, mentalen und physischen Stärken. Vor wenigen Tagen ist meine Mutter hundertdreijährig ins ewige Licht getreten. Noch vor drei Monaten ist sie munter mit ihrem Rollator durch Thun marschiert. Kam mal wieder von der Versicherung eine Aufforderung, zu bestätigen, dass sie noch unter den Lebenden weilt, ist sie schnurtracks in die Filiale marschiert und hat dort erklärt: «Still alive.». Ihrem Alltag hat sie Struktur gegeben: Morgens das «20 Minuten» am Bahnhof holen, Einkäufe erledigen und nachmittags einen Spaziergang machen. Samstagabend hat sie mit den verbliebenen Freunden telefoniert, die mit siebzig Jahren in Körper und Geist nicht halb so fit wie sie waren. Nie hat sie einen Geburtstag vergessen und noch im Juni bekam ihre Urenkelin die obligate Schokolade mit vier glänzig polierten «Fünflibern». Und wenn ich meine Mutter nach einer Bergtour besuchte, wollte sie ganz genau wissen, welchen Berg ich bestiegen habe. Und dann kramte sie in ihren Erinnerungen an vergangene Wanderungen, erzählte, wie sie mit mir über den Tschingelfirn zur Mutthornhütte und am nächsten Tag über den Petersgrat ins Lötschental abgestiegen ist. Grossspurig konterte ich, denn wir hatten damals weder Gletschererfahrung noch die notwendige Ausrüstung dazu. Zielstrebig suchte sie das Fotoalbum hervor und belegte mir ihre Behauptung. Wie oft musste ich von meiner uralten Mutter hören: «Erinnerst du dich denn wirklich nicht?»
Und jetzt ist sie verstummt. Vor drei Monaten hat sie beschlossen, das Haus nicht mehr zu verlassen. Stundenlang sass sie dösend in ihrem Lehnstuhl, am liebsten auch noch nachts, da könne sie ja eh nicht schlafen. Und die letzten beiden Monate verbrachte sie im Bett, hätte am liebsten auf den Knopf gedrückt und sich ans Ende ihrer Tage katapultiert, um ihre Unabhängigkeit noch mit ins Grab zu nehmen. Die beste Mama, Oma und Uma ist nicht mehr! Wir erfahren nicht mehr die Gedanken einer Frau zum heutigen Weltgeschehen, die am Ende des Ersten Weltkrieges geboren wurde, den Zweiten Weltkrieg hautnah in Berlin mit Bombenangriffen und dem Verlust des eigenen Bruders in den letzten Kriegstagen erlebte, die Wirtschaftskrisen, Hungersnöte, das Wirtschaftswunder, erste Automobile, die Entwicklung in der elektronischen Kommunikation, ein übermässiges überdimensioniertes Warenangebot mitbekam. Sie hat sich selten dazu geäussert, hat auch nie geschimpft oder sich beklagt. Sie hat die guten Momente genossen, war zeitlebens dankbar, dass sie im Schweizer Paradies leben durfte. Und sie war sehr selbstbestimmend. Mit Mitte Achtzig beschloss sie, ihren Führerausweis dankbar zurückzugeben, da sie in all den Jahren nie in einen Unfall verwickelt war. Kranksein war für sie ein Fremdwort, ein Glücksfall für ihren Krankenversicherer, dem sie zeitlebens treu blieb.
Es war hart, mit ihr die letzten Schritte ihres Lebens zu bewältigen. Abgemagert bis auf die Knochen lag sie in ihrem Bett. Ich hätte ihr so gerne die Last des Lebens abgenommen, aber ihr Herz schlug immer noch kräftig. Versöhnt mit diesem langsamen Sterben habe ich mich in den beiden Tagen der Totenwache, die ich ganz alleine mit ihr in ihrer geliebten Wohnung verbrachte. Ihre Seele konnte in Frieden den erkaltenden Körper verlassen. Die Zeit des Körperlichen ist beendet, mit dem Tod hat eine andere Dimension begonnen. Und was ist der Tod?
Der Tod ist wie ein Horizont, nichts anderes als die Grenze unserer Wahrnehmung!
YVONNE SCHMOKER YSCHMOKER@BLUEWIN.CH