Ein politisches Megafon für die kleinen Gemeinden

  24.09.2021 Analyse

Das Ständemehr bei Abstimmungen ist in der Schweiz tief verankert. Im Kanton Bern gibt es nun Bestrebungen, einen Minderheitenschutz nach ähnlichem Prinzip einzuführen: das Gemeindemehr. Nutznies ser wären kleine Kommunen wie jene im Frutigland. Sind sie für solche Ideen empfänglich?

Am Sonntag stimmt der Kanton Bern darüber ab, ob er den Klimaschutz in der Verfassung verankern will. Unabhängig vom Endresultat ist zu erwarten, dass die Ja- und Nein-Stimmen geografisch ungleich verteilt sein werden: In den Zentren dürfte die Vorlage mehr Zustimmung finden als in ländlichen Gebieten. Genau so präsentierte sich die Situation im letzten Juni: Das nationale CO2-Gesetz wurde innerhalb des Kantons bloss in den Verwaltungskreisen Bern-Mittelland und Biel angenommen. Die anderen acht Kreise sagten Nein – besonders deutlich das Oberland. Am Ende obsiegte die ablehnende Haltung in den Rangebieten: Die Vorlage wurde sowohl im Kanton Bern als auch landwesweit knapp abgelehnt. Doch liegen die Kräfteverhältnisse nicht immer so. Als beispielsweise im Jahr 2020 über den Transitplatz für Fahrende in Wileroltigen abgestimmt wurde, sagten das Oberland, das Emmental, das Seeland und der Oberaargau mehrheitlich Nein. Trotzdem wurde die Vorlage angenommen. Hauptgrund dafür war die hohe Zustimmungsrate in den Städten Biel und Bern.

Sind solche Entscheide fair? Werner Salzmann, Berner Ständerat, verneint diese Frage ganz klar. Um den Gemeinden mehr Mitspracherecht einzuräumen, bringt er deshalb eine politische Idee aufs Tapet, die seit Jahren immer wieder diskutiert wird: das Gemeindemehr. Dieses würde ähnlich funktionieren wie das Ständemehr. Bei kantonalen Abstimmungen würde das Volksmehr alleine nicht mehr ausreichen, um eine Vorlage durchzubringen. Zusätzlich müsste eine Mehrheit der Berner Gemeinden zustimmen, also mindestens 170. Letzte Woche reichte Salzmann eine entsprechende Interpellation ein. Er will vom Bundesrat wissen, ob es erstens verfassungsrechtliche Hinderungsgründe gegen die Einführung eines Gemeindemehrs gebe und, wenn ja, wie diese zweitens beseitigt werden könnten. Salzmann stellt diese Fragen mit gutem Grund: Bislang galt das Gemeindemehr nämlich als verfassungswidrig, weil es das Prinzip «eine Person – eine Stimme» – verletzt. Tatsächlich hätte mit der Einführung des Gemeindemehrs eine Stimme aus einer kleinen Kommune teils erheblich mehr Gewicht als eine Stimme aus einer grossen Gemeinde. Mit dieser Begründung wurden in den letzten Jahren Vorstösse von mehreren Kantonen abgelehnt. Mittlerweile ist man sich in Fachkreisen jedoch nicht mehr einig, wie Radio SRF in der Sendung «Echo der Zeit» kürzlich vermeldete. Die Bundesverfassung schreibt nämlich lediglich vor, dass sich jeder Kanton eine demokratische Verfassung geben muss. «Diese bedarf der Zustimmung des Volkes und muss revidiert werden können, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten es verlangt.» Die Formulierung lasse offen, ob bei Abstimmungen neben dem Volksmehr noch weitere Kriterien gelten dürften oder nicht, sagen manche Staatsrechtler. Wie gross der Spielraum sei, müsse nun geklärt werden.

«Auf Stufe Bund hat sich das Ständemehr als ausgleichender und stabilisierender Faktor für das Land bewährt», sagt Salzmann. Einen solchen Ausgleich brauche es auch im Kanton Bern, denn ländliche Gebiete würden von Städten und Agglomerationen zunehmend überstimmt. Ist das so? In den letzten fünf Jahren fielen an der kantonalen Urne 14 Entscheide. Bei vier davon unterschied sich das Volks- vom Gemeindemehr:
• Transitplatz Wileroltigen (angenommen)
• Gesetzesänderung Sozialhilfe (abgelehnt)
• Kredit für die Unterbringung und Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (angenommen)
• Kredit für das Tram Bern–Ostermundigen (angenommen)
Die drei angenommenen Vorlagen hätten die Hürde Gemeindemehr nicht genommen. Das bedeutet zusammengefasst: Dieses Instrument hätte in den letzten fünf Jahren 3 von 14 Entscheiden (21 Prozent) umgedreht. Es trifft somit nicht zu, dass die Randregionen im Kanton Bern systematisch überstimmt werden. Dennoch kommen solche Fälle vor und das Gemeindemehr würde das politische Mitspracherecht kleiner Kommunen bedeutend stärken. Werner Salzmann ist der Ansicht, dass dadurch auch politische Ämter auf Lokalebene attraktiver würden.

Das Gemeindemehr scheint damit genau auf die Bedürfnisse des Frutiglandes zugeschnitten. Markus Gempeler nennt die Idee denn auch «verlockend» und würde es begrüssen, wenn man das Projekt weiter verfolgte. Der Adelbodner Gemeinderatspräsident räumt gleichzeitig aber ein, dass er sich mit der Thematik noch nicht vertieft befasst habe. Damit steht er offensichtlich nicht alleine da, wie eine schriftliche Umfrage bei den sieben Frutigländer Gemeinderatspräsidenten zeigt: Die meisten von ihnen geben keine Stellungnahme ab. Anders der Gemeinderatspräsident Kandergrunds, Roman Lanz. Er befürwortet das politische Instrument vor allem deswegen, weil es bei allfälligen Gemeindefusionsplänen des Kantons relevant werden könnte. Aus demselben Grund kam der Minderheitenschutz kürzlich auch in Appenzell Ausserrhoden aufs Tapet. Dort wollen sich kleine Kommunen gegen Pläne der Regierung wehren, die Zahl der Gemeinden von 20 auf 4 zu reduzieren. Auch verknüpft Roman Lanz die Einführung eines Gemeindemehrs mit der Hoffnung, dass die Stimmbeteiligung in den kleineren Gemeinden steigen würde, da jede Kandergrunder Stimme mehr ins Gewicht fiele. Hansueli Mürner beurteilt die Situation anders. Grundsätzlich findet es der freisinnige GR-Präsident aus Reichenbach falsch, wenn sich kleine Gemeinden in die Opferrolle begeben. Zu klagen gebe es wenig, schliesslich erhielten ländliche Gebiete unter dem Strich Geld aus dem Finanzausgleich. «Wer zahlt, befiehlt», sagt Mürner. Man könne ja umgekehrt auch argumentieren, dass die finanzstarken Regionen mehr politisches Gewicht verdienen würden als andere. Doch auch das erachte er als nicht gerechtfertigt. «Das Prinzip ‹One Man – one Vote› scheint mir ein guter Kompromiss zu sein. Alles andere würde die Kluft zwischen Stadt und Land weiter vertiefen und wäre nicht zweckdienlich.»

Tatsächlich stellt sich die Frage, weshalb EinwohnerInnen kleiner Gemeinden bei jedem beliebigen Thema mehr Stimmkraft haben sollen als andere. Minderheitenschutz ist vor allem dann sinnvoll, wenn bestimmte Bedürfnisse klar definierter Kleingruppen systematisch ignoriert werden, was bei kantonalen Abstimmungen bislang nicht der Fall ist. Der Minderheiten- schutz wäre damit vielmehr ein Minderheiten- privileg – das Privileg, unliebsame Gesetzesänderungen zu verhindern. Beispiele aus der Vergangenheit zeigen zudem, dass die Stimmbevölkerung des Kantons Bern auch für Partikularinteressen durchaus empfänglich ist. So wurde beispielsweise sowohl die Verkehrssanierung in Aarwangen wie auch der Kantonswechsel der Gemeinde Clavaleyres deutlich angenommen. Zwar ist das Prinzip «eine Person – eine Stimme» in der Schweiz nicht sakrosankt. Das Ständemehr etwa macht die StimmbürgerInnen kleiner Kantone mächtiger als andere. Beim kantonalen Gemeindemehr wären die Kräfteunterschiede jedoch erheblich grösser: So würde eine Kandergrunder Stimme beispielsweise 140-mal mehr wiegen als eine Stimme aus der Stadt Bern, und zwar möglicherweise bei jeder kantonalen Vorlage. Das Ständemehr hingegen kommt nur bei obligatorischen Referenden, z.B. bei Verfassungsänderungen, zum Zug. Eine Stimme aus dem kleinsten Kanton Appenzell Innerrhoden entspricht dabei 78 Zürcher Stimmen. Vermutlich weiss all das auch Werner Salzmann. Sein Vorstoss dürfte denn auch nicht nur demokratietheoretisch, sondern ebenfalls politisch motiviert sein. Denn die Nutzniesser des Gemeindemehrs wären just jene Gebiete, in denen seine Partei, die SVP, tendenziell am stärksten vertreten ist.


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