ALLES IST NATUR, NICHTS IST NATUR
«Das ist doch unnatürlich!» Dieser Ausruf gehört zu meinen persönlichen «Lieblings»argumenten. Zu hören bekomme ich ihn, wenn ich Schmerztabletten nehme oder Fleischersatzprodukte esse. Auch beim ...
ALLES IST NATUR, NICHTS IST NATUR
«Das ist doch unnatürlich!» Dieser Ausruf gehört zu meinen persönlichen «Lieblings»argumenten. Zu hören bekomme ich ihn, wenn ich Schmerztabletten nehme oder Fleischersatzprodukte esse. Auch beim Streit um die «Ehe für alle» werfen Gegner gern mit diesem Satz um sich. Doch wer immer ihn äussert, sitzt einem grundlegenden Missverständnis auf.
Erstens: Nichts ist Natur. Wir leben nicht in Höhlen oder unter Bäumen, sondern in hübsch dekorierten Häuschen mit allerlei unnatürlichem Kram wie Computern, Wasserkochern oder weichen Matratzen. Unsere Notdurft verrichten wir nicht überall da, wo wir gerade sind, sondern in klinisch sauberen Toiletten mit Duftsteinen! Wer nackt – also durch und durch natürlich – ins Dorf geht, muss sogar mit einer Strafe rechnen. Kultur ist, was den Menschen ausmacht und ihn von anderen Lebewesen unterscheidet. Spätestens seit er mit dem Ackerbau angefangen hat (Agri-Kultur), geht der Mensch auf unnatürliche Weise mit der Natur um. Indem er Tiere in Ställen hält, setzt er das natürliche «Spiel» ums Überleben ausser Kraft. Seine eigene Natur überwindet er jedes Mal, wenn er seinen Trieben widersteht statt sich zu nehmen, worauf auch immer er gerade Lust hat. Überhaupt ist Moral so ziemlich das Unnatürlichste, was es gibt – und zugleich das Wertvollste.
Zweitens: Alles ist Natur. Ob Aspirin, Rüebli-Lachs oder Globuli – für alles, was der Mensch so herstellt, nimmt er Bausteine aus der Natur und kombiniert sie unter Anwendung von Naturgesetzmässigkeiten (Chemie!) zu etwas Neuem. Auch der Mensch selbst besteht zu 100 Prozent aus natürlichen Zutaten und chemischen Prozessen. Seine Handlungen – so unnatürlich sie auch sein mögen – sind die Resultate völlig natürlicher Vorgänge.
Kurz gesagt: «Natürlich» und «unnatürlich» sind Scheingegensätze und eignen sich nicht als wertende Kategorien. Ein komplett natürlicher Stoff kann ziemlich übel sein (Arsen) und eine kulturelle Handlung (Jodeln) wunderschön. Aufs Ergebnis kommt es an! Wer Schmerztabletten, Fleischersatzprodukte oder Homosexualität verurteilen will, muss sich also schon etwas mehr einfallen lassen als «das ist doch unnatürlich».
BIANCA HÜSING
B.HUESING@FRUTIGLAENDER.CH