SPAGAT – Unerwartete Glücksgefühle
03.09.2021 KolumneUnerwartete Glücksgefühle
Zur Sicherheit solle ich noch Mütze, warme Wechselkleider und Stirnlampe einpacken, meinte meine Kollegin. Bei Tagestemperaturen von gegen 25 Grad? Was mich da wohl erwartet? Egal, meine Erfahrungen mit Bergwanderungen sind begrenzt. So habe ich ...
Unerwartete Glücksgefühle
Zur Sicherheit solle ich noch Mütze, warme Wechselkleider und Stirnlampe einpacken, meinte meine Kollegin. Bei Tagestemperaturen von gegen 25 Grad? Was mich da wohl erwartet? Egal, meine Erfahrungen mit Bergwanderungen sind begrenzt. So habe ich also dem Lämpchen über Nacht mit Strom neues Leben eingehaucht. Sicher ist sicher.
Mit Wanderschuhen ausgerüstet, gehe ich zum Treffpunkt, wo ich von zwei ehemaligen Arbeitskolleg*innen abgeholt werde. Ich freue mich.
Wir fahren ins Gasterntal und stellen dort das Auto ab. Dann machen wir uns auf. Nach kurzer Wanderung durch den Auenwald beginnt der Wanderweg anzusteigen. Die rot-weiss-roten Markierungen weisen uns den Weg. Bald schon wird der Pfad schmal, wir gehen hintereinander. Das erste Stück nach dem Wald führt über Geröll. Ein junger Mann kommt uns entgegen; wir machen Platz und er geht mit Abstand an uns vorbei. Locker, fast rennend, passiert er uns. So nah am Abgrund, dass lockere Steinstücke ins Tal purzeln. Ich höre sie fallen und mache mir das erste Mal Gedanken über den Abstieg. Hier, so denke ich, werde ich mich sehr konzentrieren müssen.
Immer höher geht es. Ich schaue über den Abgrund hinaus und erblicke unter mir den Auenwald, der immer kleiner wird. Geröllpassagen machen Stellen aus Erde und Fels Platz. Ab und zu kann ich mich an Seilen festhalten. Die geben mir Sicherheit. Tritte aus Eisen und Holz helfen beim Überwinden grosser Höhenunterschiede.
Höhenangst kenne ich nicht, und trotzdem habe ich vor abschüssigen Abschnitten grossen Respekt. Immer wieder sage ich mir, dass ich zu wenig Übung habe und öfter in den Bergen unterwegs sein sollte. Während wir plaudernd unterwegs sind, lasse ich mir nicht anmerken, dass ich mir immer wieder überlege, ob ich den Abstieg schaffen würde.
Je höher wir aufsteigen und je tiefer eines der schönsten Hochgebirgstäler der Schweiz unter uns liegt, desto so intensiver werden meine Gedanken an den Retourweg. Ja, ich muss es zugeben, ich bin an ausgesetzten Stellen in den Bergen ängstlich.
Plötzlich erblicke ich den Gletscher über uns. Imposant thront er auf der Flanke des Balmhorns, und ich kann den Blick kaum von ihm abwenden. Schon dafür hat sich der Aufstieg gelohnt. Und dann sehe ich unser Ziel, die Balmhornhütte. Hier werden wir freundlich begrüsst und bewirtet. Wir sind heute die einzigen Gäste. Am Tisch vor der Hütte geniessen wir ein einfaches, aber feines Abendessen und ich stelle fest, dass ich das erste Mal einen «Berg» bestiegen habe, auf dem ich oben noch mit einem Essen belohnt werde. Glücksgefühle erwachen und ich geniesse jeden Augenblick, die bangen Gedanken an den bevorstehenden Abstieg sind verschwunden.
Und dann, einige Zeit später, erreichen wir den Auenwald, und ich frage mich, wovor ich mich denn eigentlich gefürchtet hatte.
Zurück bleibt die Erfahrung an eine tolle Wanderung, die ich ganz schnell um eine zweite und dritte ergänzen will. Eine richtige Berggeiss werde ich wohl nie werden. Aber ich wollte doch schon seit ewigen Zeiten den für mich schönsten Talabschluss der Schweiz besteigen: den Wildstrubel. So nehme ich mir vor, Wünsche endlich in Taten umzusetzen. Der Muskelkater zwei Tage später kann mich nicht davon abhalten.
FRANZISKA KAUFMANN
FR.KAUF@GMAIL.COM