Darfs noch ein bisschen Trump sein?
26.10.2021 AnalyseIm Internet, aber auch in politischen Debatten werden immer häufiger Verschwörungstheorien verbreitet. Von vielen unbemerkt, entwickeln sich Gerüchte und Falschbehauptungen zu ganz normalen Argumenten. Eine demokratisch verfasste Gesellschaft täte gut daran, diesem Trend frühzeitig ...
Im Internet, aber auch in politischen Debatten werden immer häufiger Verschwörungstheorien verbreitet. Von vielen unbemerkt, entwickeln sich Gerüchte und Falschbehauptungen zu ganz normalen Argumenten. Eine demokratisch verfasste Gesellschaft täte gut daran, diesem Trend frühzeitig Einhalt zu gebieten.
Die Volkswirtschaft Berner Oberland ist die grösste Lobbyorganisation der Region. Sie vertritt die Interessen von mehr als 600 Unternehmen, zu ihren Mitgliedern gehören ausserdem diverse Gemeinden und Organisationen. Am vergangenen Freitag verschickte die Volkswirtschaft ihren monatlichen Newsletter «Blickpunkt Berner Oberland». Zwischen Veranstaltungsrückschauen und Terminen fand sich darin auch ein Gastartikel des Kulturrats, der die Auswirkungen der Pandemie auf die Kulturszene thematisierte. Der Titel des Beitrags: «Zurück zur NORM-alität oder den Great-Reset?» Die Überschrift ist nicht nur punkto Schreibweise und Grammatik bemerkenswert, auch der Begriff «Great Reset» lässt aufhorchen. Dieser «grosse Neustart» ist in den vergangenen Monaten fester Bestandteil von Verschwörungstheorien geworden. Die Legende geht kurz gesagt so: Die globalen (Finanz-)Eliten haben die Corona-Krise nur inszeniert, um eine neue Weltordnung zu schaffen und danach die totale politische und wirtschaftliche Kontrolle an sich zu reissen.
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Wie bei jeder ordentlichen Verschwörungstheorie gibt es dafür keinerlei überprüfbare Beweise. Dass der «Great Reset» Unsinn ist, erkennt man schon daran, dass diese Verschwörungstheorie zuverlässig alle paar Jahre auftaucht. Bevor Corona zum Thema wurde, standen Asylsuchende im Mittelpunkt. Die globalen Eliten wollten die angestammte Bevölkerung in einem geplanten «grossen Austausch» durch Migranten ersetzen, hiess es damals. Die Geschichte bleibt immer die gleiche, nur der Fokus ändert sich.
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Nun ist der «Great Reset» also in einem Newsletter der Volkswirtschaft Berner Oberland aufgetaucht, in einem Gastbeitrag des Kuturrats. Dafür gibt es nur zwei mögliche Erklärungen, und keine davon ist besonders schmeichelhaft. Wenn der Begriff zufällig und quasi ahnungslos verwendet wurde, wirft das ein schlechtes Licht auf den Kulturrat. Wer eine Chiffre wie den «Great Reset» aufgreift, sollte wissen, was sie bedeutet – und welchem kulturellen Kontext sie entstammt. Viel wahrscheinlicher ist aber die zweite Erklärung: dass nämlich der Begriff mit voller Absicht gewählt wurde. Dafür spricht, dass er nicht nur prominent im Titel, sondern eingedeutscht auch noch einmal am Ende des Beitrags steht. So oder so: Dass die Volkswirtschaft Berner Oberland solche Inhalte nonchalant via Newsletter an Hunderte Mitglieder verschickt, zeigt, dass sich hier Grenzen verschoben haben. Verschwörungstheoretisches Vokabular fällt offenbar schon gar nicht mehr auf.
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Ginge es nur um die Volkswirtschaft, könnte man noch von einem einzelnen Fauxpas sprechen. Aber so ist es leider nicht. Verschwörungstheoretische Ideen sind inzwischen weit verbereitet. In Frutigen stehen Wahlen vor der Tür, aber ein öffentlicher Wahlkampf findet nicht statt. Wer die KandidatInnen stattdessen im Internet sucht, stösst mitunter auf Erstaunliches. Da werden gewählte Regierungen als kriminelle Vereinigungen bezeichnet. Es wird Stimmung gemacht gegen «die gekauften Medien» und gegen das Steuernzahlen. Und es werden Warnungen geteilt, die Abstimmung von Ende November könnte manipuliert werden. Sicher, kein Gemeinderatskandidat druckt so etwas auf einen Wahlflyer. Aber auf Facebook und in anderen sozialen Medien findet man derlei Ansichten sehr wohl, und sie bleiben weitgehend unwidersprochen.
Man kann all das als Lappalien abtun, als Spinnereien, die mit der Realität nichts zu tun haben. Doch wer so argumentiert, verkennt, dass das Internet inzwischen für viele die Realität ist und soziale Medien nicht selten die erste und einzige Informationsquelle sind. Aus dieser Quelle tröpfeln Tag für Tag halbwahre und frei erfundene Geschichten in die Köpfe der Nutzer: «Die Eliten hintergehen das Volk» – «Abstimmungen könnten auch in der Schweiz gefälscht werden» – «Den offiziellen Behörden ist nicht zu trauen» – «Alle Medien sind vom Staat gelenkt». Wie gesagt: All das entbehrt in nahezu 100 Prozent der Fälle jeder Grundlage. Trotzdem entfaltet die tägliche Berieselung ihre Wirkung: Die Leute beginnen, Fake News für wahr zu halten. Gleichzeitig sinkt die Hemmschwelle, solche halbgaren Informationen und Verdächtigungen selbst weiterzuverbreiten.
Was wir derzeit erleben, sind die Anfänge des Trumpismus in der Schweiz. Funktionierende staatliche Institutionen werden verächtlich gemacht – nicht selten von den eigenen politischen Repräsentanten, die es eigentlich besser wissen müssten. Alteingesessene Zeitungen und Rundfunksender gelten als Mainstream oder Systemmedien, sobald sie der eigenen Weltanschauung widersprechen. Alternative Wahrheiten und gezielt gestreute Gerüchte ersetzen die sachliche Auseinandersetzung. Und wenn die Fake News später widerlegt werden – was solls? Irgendetwas wird schon hängen bleiben. Wohin diese Methoden führen, konnte die Welt am 6. Januar beobachten, als ein via soziale Medien aufgewiegelter Mob das Kapitol in Washington stürmte – wegen eines angeblichen Wahlbetrugs, für den es bis heute keinerlei Beweis gibt.
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Hierzulande ist eine solch dramatische Entwicklung vorerst nicht zu befürchten. In den USA stehen sich zwei grosse politische Blöcke nahezu unversöhnlich gegenüber. In der Schweiz ist die Parteienlandschaft vielfältiger und die Macht dank des ausgeprägten Föderalismus deutlich stärker fragmentiert – weswegen es auch keine politische Führungsfigur vom Kaliber eines Donald Trump gibt. Gleichwohl ist der Trend zum verschwörungstheoretischen Geraune gefährlich, denn er untergräbt schleichend das Vertrauen in Staat und Gesellschaft. Dabei ist es schlimm genug, dass immer mehr Privatpersonen den zirkulierenden Gerüchten und Halbwahrheiten aufsitzen. Wenn diese aber von Verbänden und politischen Organisationen teils ganz bewusst gestreut werden, ist das ein Alarmsignal. Wo jeder – unabhängig vom Wahrheitsgehalt – alles Mögliche behaupten kann, sind sachbezogene Debatten am Ende.