Das Gasterntal hat sich erholt – Natur und Mensch arbeiten weiter
08.10.2021 Kandersteg, Kandergrund, Blausee, Mitholz, NaturDas Gasterntal wurde verwüstet, Kandersteg war vom restlichen Tal abgeschnitten und die Kander spülte den Fahrbahnbelag aus dem Mitholztunnel – vor zehn Jahren zeigte die Natur eine Kraft, mit der man im Gasterntal auch heute noch kämpft. Ein Besuch vor Ort.
HANS ...
Das Gasterntal wurde verwüstet, Kandersteg war vom restlichen Tal abgeschnitten und die Kander spülte den Fahrbahnbelag aus dem Mitholztunnel – vor zehn Jahren zeigte die Natur eine Kraft, mit der man im Gasterntal auch heute noch kämpft. Ein Besuch vor Ort.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
«Ich habe erst am Abend in der Nachrichtensendung 10vor10 mitbekommen, was wirklich passiert war. Ich sah im Fernseher, dass im Gasterntal plötzlich die schönsten Wiesen zur Hälfte einfach verschwunden waren.» Als Hansueli Rauber die Lage langsam realisierte, waren in Mitholz bereits rund 100 Personen evakuiert, teils mit dem Helikopter ausgeflogen worden. Er erzählt seine Erinnerungen bei der Fahrt über die enge und steile Strasse ins Gasterntal. Vor Ort will er zeigen, was in den letzten zehn Jahren seit dem verheerenden Unwetter vom 10. Oktober 2011 passiert ist. Er muss es wissen, denn seit 2013 ist der Baufachmann Präsident der Bäuert Gastern.
Der ewige Kampf mit dem Geschiebe
Nach der Klus öffnet sich das Tal in die grüne Ebene, von den hohen Felsen flankiert. Je tiefer wir ins Tal Richtung Selden fahren, umso wilder wird die Gegend. Staublawinen haben ihre Spuren hinterlassen, die geknickten Bäume säumen den Schotterweg. Kieshaufen beidseits der Strasse zeugen von dauernden Felsabbrüchen und Rutschungen, und die Kander fliesst kreuz und quer durch dieses unter Schutz stehende Gebiet, je nach Wetter an manchen Stellen nur wenige Zentimeter unterhalb des Strassenniveaus – oder sogar darüber.
«Wir kämpfen hier vor allem mit den Unmengen an Geschiebe. Dieses füllt uns das Tal immer höher auf.» Rauber zeigt auf die alten Brückenfundamente im Staldi. Sie liegen drei Meter tiefer als die heutige Brücke, die nach dem Unwetter – wie fünf weitere – neu erstellt werden musste. «Das Bachbett und die ganze Ebene unterhalb der Schlucht ist in den letzten zehn Jahren sicher um einen bis anderthalb Meter höher geworden. So gefährdet das Wasser die beiden Naturstrassen nach Selden und Heimritz, natürlich auch die Zufahrt zu den dortigen Gasthäusern und Hotels.» Dass die Schneelawinen jedes Frühjahr Reparaturen an Brücken, Wegen und Strassen erfordern, ist man sich hier gewohnt.
Die Schönheit gibts nicht gratis
Das Unwetter im Oktober 2011 sei eine Konzentration dessen gewesen, was in der Natur ohnehin passiere. Schnee und Regen in Unmengen, dazu auftauender und langsam instabiler Boden: Über 1300 Meter runter donnerten Schlamm, Geröll und Wasser am Montagnachmittag vom Hockenhorn ins Gasterntal und verwüsteten vor allem den hinteren Teil in kürzester Zeit. Die Fluten der Kander suchten sich überall neue Wege (siehe Kasten rechts). Laut einem Bericht der eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft vernichteten über 250 000 Kubikmeter Geschiebematerial die Infrastruktur zu etwa zwei Dritteln. Zum Glück kamen keine Menschen zu Schaden, eine Person musste mit dem Helikopter ausgeflogen werden. Auch die Tiere auf den Alpen hatten Glück: man weiss ledglich von vier Hühnern, die nicht gerettet werden konnten.
Von Mai bis Oktober wohnen jeweils 20 bis 25 Personen im Tal, haben ein Auskommen in der Landwirtschaft und im Tourismus. Die Gäste auf der Terrasse im Hotel Waldhaus schwärmen bei unserem Besuch von der urtümlichen Natur und den imposanten Gipfeln. Hansueli Rauber verrät ihnen gern, wann es jeweils am schönsten ist im Gasterntal – im Juni, wenn der Frauenschuh blüht. Er erklärt ihnen auch, dass der Zugang zu dieser Schönheit aufwändig ist. Die Gebühren für die Fahrt mit dem eigenen Auto ins Tal und die Parkplatznutzung decken die Unterhaltskosten nicht. Man sei froh um Unterstützung beispielsweise durch die Gemeinde oder die Patenschaft für Berggebiete, wenn es um die Erhaltung der lebensnotwendigen Infrastruktur geht. Die Betriebe im Tal haben eigene Trinkwasserquellen, zudem gibt es drei kleine Wasserkraftwerke im Tal.
Die Natur ist älter – und stärker
Mitten durch das naturbelassene Schutzgebiet zieht sich derzeit eine Wunde durch die Landschaft. Quasi mitten im Bachbett der mäandernden Kander und zwischen geknickten Bäumen wird die Naturstrasse neu gebaut. Unmengen an Kies und Geschiebe werden aufgeschüttet und bilden den Unterbau der erhöhten Strasse. Vier Jahr habe man mit den Ämtern bis zur Realisierung diskutiert, so die diplomatische Beschreibung von Hansueli Rauber. «Wir dürfen kein Kies abführen, also nutzen wir dieses möglichst gleich an Ort und Stelle, um die Strasse zu sichern, auszubessern und zu erhöhen. So bleibt das restliche Auenschutzgebiet unberührt. «Ich nenne das aktiven Naturschutz», so der Bäuertpräsident. Und die Natur werde in kurzer Zeit die Eingriffe des Menschen überwachsen. Er staune immer, wie rasch sich die Pflanzen durchsetzen würden.
Das Gasterntal ist ein tiefer Einschnitt in die Landschaft, der seit Jahrhunderten mit Geröll und Felsstürzen der umliegenden Berge aufgefüllt wird. Verhindern könne man das weitere Auflanden des Talbodens nicht, das sei ein natürlicher Vorgang und würde fortschreiten, erklärt Rauber. Eine schöne Stützmauer oder ein Damm würden jeweils nur zeitlich beschränkt Wirkung zeigen. «Es gibt nichts anderes: Wir passen uns jedes Jahr wieder neu der Natur an. Und nur mit dieser Einstellung können die Bäuert und die privaten Landbesitzer im hinteren Gasterntal bleiben und wirtschaften.»
Die Fahrbahn ausgespült
Mit Hansueli Rauber hat die Bäuert auch einen erfahrenen und krisenerprobten Mann an der Spitze. Er half bereits 2005, die Unwetterfolgen in Reichenbach / Kien zu bewältigen. 2011 war er dank seiner Erfahrung im Gasterntal stark engagiert, aber er koordinierte auch die Arbeiten in Mitholz. Dort hatte die Kander unter dem Bühl das Bachbett verlassen und suchte sich den einfachsten Weg: Sie wälzte sich durch den Lawinenschutztunnel. Dabei nahm sie auch den kompletten Fahrbahnbelag mit und türmte ihn unterhalb des Nordportals auf – ein unvergessliches Bild der Zerstörung. Etliche Gebäude im Dorf wurden beschädigt. Die Bahn war an zwei Stellen über Abschnitte von je 600 Meter unterspült.
Die Heftigkeit des Ereignisses brachte auch die Bundesräte Doris Leuthard und Ueli Maurer nach Mitholz. Sie besichtigten die Schadenplätze und liessen sich vom damaligen Regierungsstatthalter Christian Rubin die Lage erklären. Bei der späteren Aufarbeitung des Ereignisses sagte Rubin: «Während des Tunnelbaus wurde ein Szenario ausgearbeitet, was passieren könnte, wenn die Kander durch den Mitholztunnel fliesst. Dieses wurde aber als unrealistisch beiseitegelegt.»
Die Sorgen bleiben
Die Armee kam rasch mit schweren Baumaschinen und mehreren Dutzend Soldaten zu Hilfe. Der Zivilschutz leistet zur Behebung der Schäden im Kanderund im Gasterntal 533 Diensttage. 221 Personen aus verschiedenen Regionen des Kantons standen im Einsatz. Sie halfen beim Bau von beschädigten und zerstörten Wegen und Brücken, und ein Teil von ihnen fischte rund vier Tonnen Forellen aus Bächen und Tümpeln. Diese waren beim Unwetter aus der Fischzucht am Blausee weggeschwemmt worden. Allein für das Gasterntal wurden die Wiederherstellungskosten auf über zwei Millionen Franken beziffert. Bund, Kanton und Spender aus der gesamten Schweiz deckten diese Summe weitgehend. Der Kanton musste für die Strassen- und Tunnelreparatur knapp zehn Millionen Franken aufwenden, im ganzen Oberland wurden Schäden von 52 Millionen Franken berechnet.
Ein letzter Blick von Hansueli Rauber zurück in «sein» Gasterntal, bevor es wieder durch die Klus und entlang der schäumenden Kander hinunter in die Zivilisation geht: «Es kann wieder passieren. Dort unter dem Doldenhorn hat es mehrere 100 000 Kubikmeter loses Material, der Boden taut und alles wird locker. Von unten ist diese Gefahr kaum zu sehen, aber wehe, wenn das alles runterkommt.» Er blickt mit ein bisschen Sorge zu den Gipfel hinauf, die im letzten Sonnenlicht leuchten.
Der 10. Oktober 2011 im Oberland
Normalerweise treten «Schnee-Wasser-Ereignisse» im Frühjahr auf, wenn der Schnee in den Bergen zu schmelzen beginnt und zugleich viel Regen fällt. Dies war bei den Hochwassern 1999 und 2005 der Fall. Im Jahr 2011 war es anders. In der Woche vor dem Hochwasser war eine Unmenge Schnee gefallen. Zusammen mit dem Wärmeeinbruch vom Sonntag, 9. Oktober, und den anschliessenden Niederschlägen schmolz dieser innert kurzer Zeit weg. Wenn es geschneit statt geregnet hätte, wäre wohl nichts passiert, erklärten damals die Experten.
Die ersten alarmierenden Meldungen kamen am Montagnachmittag, dem 10. Oktober, herein. Die Feuerwehren wurden aufgeboten, die Führungsstäbe alarmiert. Abends waren in Mitholz rund 100 Personen evakuiert worden. Die Bahn und die Strasse in Mitholz waren unterbrochen, Kandersteg nur noch durch den Lötschberg erreichbar. Auch in Frutigen (Kanderbrück) wurde beidseits der Ufer Geschiebe grossflächig verteilt.
Im Kandertal dauerte es bis Freitag, den 14. Oktober, bis Kandersteg von Norden her über die behelfsmässig reparierte Strasse erreichbar war. Die definitive Reparatur dauert bis kurz vor Weihnachten. Der Autoverlad öffnete bereits am Montag wieder. Die Bahn fuhr ab dem 21. Oktober zumindest eingleisig wieder via Kandersteg in den Süden, das zweite Gleis war erst nach mehreren Wochen fertig. In Mitholz wurde von der Armee eine Notbrücke über die Kander aufgebaut, zudem mussten das beschädigte Trinkwassernetz und die Kanalisation wieder instand gestellt werden.
Die Kander erreichte in Heustrich den Pegelstand des verheerenden Unwetters 2005. Thuner- und Brienzersee überschritten die Alarmgrenzen und es wurde in den Folgetagen viel Schwemmholz aus dem Wasser gefischt. Auch im östlichen Oberland und im Obersimmental wurden diverse Strassen- und Bahnverbindungen überschwemmt oder vorsorglich gesperrt.
Die Schutzverbauungen in Kandersteg und Reichenbach hatten sich 2011 ingesamt aber bewährt. In Kandergrund wurden nach 2011 etliche Verbesserungen an der Kander realisiert. In Frutigen wartet man hingegen noch immer auf den Bau neuer Schutzbauwerke.
HSF