Die Lunge – leben heisst atmen
08.10.2021 GesundheitJeder Schritt, jeder Herzschlag und jede Fingerbewegung benötigen Energie. Täglich versorgen bis zu 30 000 Atemzüge den menschlichen Körper mit wertvollem Sauerstoff. In den Lungenbläschen erfolgt innert Sekundenbruchteilen der entscheidende Gasaustausch mit dem Blutkreislauf. Eine ...
Jeder Schritt, jeder Herzschlag und jede Fingerbewegung benötigen Energie. Täglich versorgen bis zu 30 000 Atemzüge den menschlichen Körper mit wertvollem Sauerstoff. In den Lungenbläschen erfolgt innert Sekundenbruchteilen der entscheidende Gasaustausch mit dem Blutkreislauf. Eine Reise durch die Atemwege aus Sicht eines Sauerstoffmoleküls.
Als Ende 2019 die ersten Zeitungsmeldungen über eine mysteriöse Lungenkrankheit mit 27 Infizierten in Zentralchina erschienen, beunruhigte das im fernen Europa kaum jemanden. Schliesslich hatten sich vorangegangene Epidemien auf Regionen im fernen Osten (Sars 2002) oder die arabische Halbinsel (MERS 2012) beschränkt.
Doch spätestens im Februar 2020, als der Genfer Autosalon, die Basler Fasnacht und der Engadiner Skimarathon abgesagt wurden, oder Mitte März 2020, als der Bundesrat die Schweiz durch den Shutdown praktisch stillegte, war klar: Die befürchtete Pandemie ist Tatsache. Seitdem dominiert Corona unseren Alltag.
Für einmal soll der Blick nicht auf den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen oder den teilweise verbissen geführten Diskussionen um Impfungen und Zertifikate liegen, sondern auf der Lunge als zentralem Ort des Geschehens – und zwar aus der Perspektive eines Sauerstoffmoleküls.
Die Atemluft wird gereinigt
«Als Vertreter der knapp 21 Prozent starken Sauerstoffgruppe erreiche ich zusammen mit der viel grösseren Stickstoff-Fraktion (78 Prozent), ein paar CO2und Edelgaskollegen, Duftstoffen sowie je nach Jahreszeit Pollen, Viren oder Bakterien die Nasenhöhle. Staub, Russ und Feinstoffpartikel bleiben an den feuchten Schleimhäuten hängen, ebenso wie ein Teil der ungebetenen Krankheitserreger. Flimmerhärchen spedieren sie kontinuierlich in Richtung Kehlkopf und Magen.
Gut durchwärmt und angefeuchtet passiere ich den Kehlkopf und erreiche die Luftröhre. Ihre feine Schleimhaut erledigt zusammen mit den Flimmerhärchen, die ähnlich einem wogenden Kornfeld in Richtung Rachen schlagen, die Grobreinigung der Atemluft. Kein Staub und keine Partikel sollen die Lunge verschmutzen und schädigen.
Am Ende der Luftröhre wird der Luftstrom über die Bronchien auf die beiden Lungenflügel aufgeteilt. Gut eingebettet liegt das weiche und dehnbare Lungengewebe zwischen Brustwand und Mittelfell, unten liegt es auf dem Zwerchfell. Die Lungenflügel sind kegelförmig, etwa 26 Zentimeter hoch, 15 Zentimeter im Durchmesser und umfassen ein Volumen von etwa 1,6 Litern.
Baumförmig verästeln die Bronchien sich über 20-mal, immer schmaler wird es, bis die feinen Bronchiolen in den Lungenbläschen (Alveolen) enden. Als traubenartige Fortsetzungen hängen sie an den Bronchiolen.»
Gasaustausch: Sauerstoff rein, Kohlendioxid raus
«In den Alveolen bin ich am wichtigsten Ort in der Lunge angekommen, hier sind sich Blutkreislauf und Atemwege ganz nah. Die gesamte Oberfläche der etwa 300 Millionen, 0,2 Millimeter kleinen Bläschen beträgt etwa 100 Quadratmeter – etwa so gross wie eine Vierzimmerwohnung. Jedes einzelne ist von einem Netz feinster Blutkapillaren umgeben. Für mich ist es nun Zeit, die Umgebung zu wechseln und in ein rotes Blutkörperchen (Erythrozyt) zu gelangen. Jedes von ihnen ist «hungrig», den wertvollen Sauerstoff aufzunehmen und das verbrauchte Kohlendioxid loszuwerden.
Dies geschieht dank des chemischen Gesetzes der Diffusion fast von selbst. In den Lungenbläschen ist die Sauerstoffkonzentration hoch, im Kapillarblut gering; dafür herrscht dort ein Überschuss an Kohlendioxid. Entlang dem Konzentrationsgefälle passiere ich, wie von selbst, die hauchdünne Membran (0,2 bis 0,5 Mikrometer) zwischen der Alveole und einer eng anliegenden Kapillare, passiere kurz das Blut und werde von einem roten Blutkörperchen aufgenommen. Dieses transportiert mich weiter ins Herz, und mit dem nächsten Herzschlag erreiche ich den grossen Blutkreislauf, wo ich am Ende irgendwo dazu beitrage, Energie zu gewinnen.
Der Gasaustausch muss blitzschnell vonstattengehen, denn das Blut und die Erythrozyten passieren die Lungenkapillaren innert einer halben Sekunde. Das Gleiche – nur genau umgekehrt – geschieht mit dem im Stoffwechsel anfallenden Kohlendioxid, das die Lunge erreicht: raus aus den Blutkörperchen, rein in die Atemwege und mit der ausgeatmeten Luft hinaus ins Freie.»
So sieht also die Reise eines Sauerstoffmoleküls durch den Körper aus. Die Lunge arbeitet äusserst ökonomisch. Ein grosser Teil der Alveolen wird erst belüftet und stärker durchblutet, wenn der Sauerstoffbedarf bei körperlicher Anstrengung steigt. Gut, wenn alles normal läuft – was aber, wenn zum Beispiel draussen eine Pandemie herrscht und die Lunge krank ist?
Was läuft bei Corona in der Lunge schief?
Die rasche Vermehrung in den oberen Atemwegen führt zur leichten Ausbreitung der Viren. Wandern sie in die tieferen Abschnitte der Lunge, greifen sie die Zellen mit den Flimmerhärchen an. Diese verlieren ihre Funktion, und dadurch stockt der Abtransport von Fremdstoffen, bekämpften Viren und abgestorbenem Zellmaterial.
Viel schlimmer ist jedoch die Schädigung der Grenzschicht (Zellmembranen) zwischen den Lungenbläschen und ihren Blutkapillaren. Die Zwischenräume füllen sich mit Flüssigkeit, nutzloses Gewebe lagert sich ein. Die Diffusionsbarriere wird immer grösser, die Wege für den Gasaustausch werden länger und länger, die Sauerstoffversorgung sinkt und der Patient leidet an Atemnot. «In schweren Fällen wird die Lunge quasi überflutet und man kann nicht mehr atmen», konstatiert ein Forscher.
Corona als Auslöser einer fatalen Entzündungsreaktion
Zusätzlich löst das Coronavirus unspezifische und teilweise massive Entzündungen aus. Entgleist dabei das Abwehrsystem, wird eine fatale Kettenreaktion in Gang gesetzt. Die fehlgeleitete Entzündungsantwort kann Gefässe nicht nur in der Lunge schädigen, sondern auch andere Organe wie Gehirn, Herz, Nieren, Darm und Leber in Mitleidenschaft ziehen und zu einer Unterversorgung führen. Multiorganversagen und Gerinnungsstörungen sind fatale Komplikationen einer schweren Covid- 19-Erkrankung.
Heute weiss man, dass das Coronavirus in der Lunge der initiale Auslöser einer bisher noch nicht vollständig bekannten, ausgeprägten Entzündungsreaktion ist. Dr. med. Martin Winkler von der Universität Göttingen beschreibt es so: «Die virale Infektion betrifft zunächst eher die Blutgefässe als die belüfteten Areale der Lunge und verursacht so den schweren Sauerstoffmangel. Durch eine virusbedingte Schädigung der innersten Zellschicht von Blutgefässen, dem Endothel, erklären sich auch andere häufige Covid-19-typische Organkomplikationen durch z.B. Thrombosen oder Gerinnungsstörungen.»
BEAT INNIGER, OFFIZIN-APOTHEKER FPH, ADELBODEN
Mehr erfahren Sie in unserer Web-Link-Übersicht unter www.frutiglaender.ch/web-links.html
Zahlen und Fakten zu Lunge und Atmung
Atmung
• ca. 0,5 Liter Luft pro Atemzug
• 16 bis 20 Atemzüge pro Minute (Durchschnitt Erwachsene) entsprechen 480 bis 600 Litern Luft pro Stunde
• Atemzüge je nach Aktivität: 9 im Schlaf (280 l / Std.); 15 im Stehen (450 l / Std.; 33 beim Gehen (1000 l / Std.); 120 beim schnellen Laufen (3600 l / Std.)
Atemzüge pro Tag:
• 23 bis 29 Tausend (11 500– 14 500 l / Tag) im Jahr:
• 8,5 bis 10,5 Millionen (4200 bis 5200 m3 Luft; entspricht in etwa der Füllung eines Heissluftballons) in 80 Jahren:
• 670–840 Millionen (336 bis 420 Millionen m3)
Lunge
• gesamtes Volumen 3,5 bis 4 Liter (Totalkapazität)
• normaler Atemzug: 0,5 Liter, maximales Atemvolumen (tiefst möglicher Atemzug): ca. 2 Liter
• Reservevolumen ca. 1,5 Liter (Residualvolumen, kann nicht ausgeatmet werden)
Lungenbläschen: Gasaustausch
• Anzahl: ca. 300 Millionen
• Durchmesser: ca. 0,2 Millimeter
• Oberfläche ca. 100 m2
QUELLEN: LUNGENLIGA SCHWEIZ / DOCCHECK FLEXIKON