FEDERLESIS – Morbus Helveticus

  02.11.2021 Kolumne

Morbus Helveticus

«I ha Buchweh …», berichtet Zwilling B am Telefon. Er weilt gerade in den Ferien bei den Grosseltern im «Wältsche». Ob er denn irgendetwas gegessen habe, das diese Bauchschmerzen erklären könnte? (Ohne dass ich den Kochkünsten meiner Schwiegermutter das Misstrauen aussprechen würde, natürlich!)
«I ha gluub Lengizyt ...» Oje. «Was att er?», fragt der welsche Vater. Akuten Morbus Helveticus – also Heimweh –, kläre ich meinen Mann auf. Die sogenannte Schweizerkrankheit wurde bereits um 1600 n. Chr. erwähnt. Kennt man das im Welschland nicht? «Non, das bringt nüt.» Also MEIN Mitgefühl hat er, der arme Bub. Diese Erkrankung wird in unserer Familie nämlich dominant vererbt.
Der Grossvater und die Mutter von Zwilling B sind beide betroffen. Der Grossvater, seinerzeit als Bub ebenfalls in den Ferien im schönen Bündnerland, heulte ins Telefon, dass er diesen Bündner Dialekt keinen Moment länger ertragen würde und sofort heimkehren müsse. Beim «Grabenkehr», auf der Grenze Kiental–Scharnachtal, sei seine Welt zu Ende. Meine Mutter erkannte bei mir schon früh solche «Grabenkehrsymptome». In bester Absicht schickte sie mich vorbeugend zur Therapie. Dazu gehörten beispielsweise ein Kinderlager im Saanenland oder Ferien im Schwarzwald mit einer befreundeten Familie. Das Ganze gipfelte jedoch in einem Hungerstreik im Saanenland und einer nächtlichen Rückholaktion im Ausland, bei der mein wenige Monate alter Bruder ohne Identitätskarte über die Grenze geschmuggelt werden musste, um die grosse Schwester zu retten.
Bei der letzten Aktion, einem Welschlandaufenthalt als Au-pair-Mädchen, drohte ich bankrott zu gehen, da der Lohn fürs Bahnbillet «Vevey–Kiental» draufging. Und sogar beim Heiratsantrag war die Kientaler Schneefallgrenze ein Thema. Weiter bzw. tiefer als Reichenbach sind wir dann mit unserem «Ehepaarwohnsitz» nicht gekommen.
So gesehen kann ich ja froh sein, dass mein Sohn nur über Bauchschmerzen klagt. Die Schweizer Söldner, die als besonders anfällig für diese Krankheit galten, litten unter Symptomen wie Entkräftung, Abzehrung, unregelmässigem Herzschlag, Fieber – und einige sollen sogar daran gestorben sein. Erklangen die Melodien von «Le Ranz des Vaches» oder dem «Guggisberglied», wurden sie reihenweise fahnenflüchtig. Und so war das Singen und Pfeifen dieser Lieder Gerüchten zufolge in Frankreichs Armee unter Androhung von Todesstrafe verboten. In Anbetracht all dessen und weiterer aktuell potenzieller Fahnenflüchtiger in französischssprachigen Gebieten sollten die Grosseltern jaa nicht öppe «I ghöre es Glöggli» singen, meint «le Welsch».
Nein, die Grosseltern kennen DAS Heilmittel gegen Heimweh: einen Ausflug in den Europapark. Da gibt es ja sogar «chli Schweiz»: die Schweizer Bobbahn, den Schellenursli, Chalets und Fondue. Doch auch an diesem Abend klingelt das Telefon: «I ha Buchweh …», berichtet diesmal Zwilling A am Telefon. Oh, oh… Morbus Hevelticus?
Nein. Zuckerwatte mit Bratwurst.

ANDREA BALMER-BEETSCHEN

ANDREA.BEETSCHEN@BLUEWIN.CH


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