Geier erobern den Alpenraum
19.11.2021 NaturEinst wurde er als angeblicher Kinderdieb gejagt, heute ist der Bartgeier hierzulande wieder heimisch. Auch der Gänsegeier könnte sich bald wieder ansiedeln. Beide Vogelarten interessieren sich ausschliesslich für Aas.
In letzter Zeit werden im Alpenraum immer häufiger ...
Einst wurde er als angeblicher Kinderdieb gejagt, heute ist der Bartgeier hierzulande wieder heimisch. Auch der Gänsegeier könnte sich bald wieder ansiedeln. Beide Vogelarten interessieren sich ausschliesslich für Aas.
In letzter Zeit werden im Alpenraum immer häufiger Beobachtungen von hoch über den Alpengipfeln kreisenden Riesenvögeln – von Geiern – gemacht. Es sind dies in erster Linie Bartgeier, die dank eines immer noch laufenden Wiederansiedlungsprojekts in den Schweizer Alpen wieder heimisch sind. Ferner fliegen seit ein paar Jahren immer wieder Gänsegeier ein, die als Jungvögel aus den französischen Alpen und den Pyrenäen «ausgewandert» sind und sich hier einige Zeit aufhalten, bevor sie im Spätsommer / Herbst weiterziehen. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie auch hierzulande brüten werden.
22 Brutreviere in der Schweiz
Einer Gruppe engagierter Naturschützer und Ornithologen ist es zu verdanken, dass der einst ausgerottete Bartgeier wieder im Alpenraum lebt und brütet. Um 1800 kreiste dieser majestätische Riesenvogel noch friedlich über den höchsten Berggipfeln und Alpweiden, bis ihn Schafzüchter, Alphirten und Jäger zu erlegen begannen – entweder wegen der damaligen Abschussprämie oder vielmehr aus Unwissenheit. Viele glaubten damals, dass der «Lämmergeier», wie er früher hiess, ihnen Schafe und sogar Kleinkinder rauben würde. Der letzte bekannte Abschuss datiert aus dem Jahr 1913, als ein Altvogel im nahe gelegenen Aostatal erlegt wurde.
Als ab 1973 im Alpenzoo Innsbruck Bartgeier-Bruten gelangen, kam die Idee auf, diese im Alpenraum auszuwildern und anzusiedeln. So wurde das Bartgeier-Wiederansiedlungsprojekt initiiert. Weitere Zoos und Tierparks im In- und Ausland begannen, sich daran zu beteiligen – darunter auch der Tierpark Goldau, in dem mittlerweile schon einige Jungvögel gezüchtet wurden. Ab 1986 wurden solche Nachzuchten jährlich im ganzen Alpenraum erfolgreich ausgewildert, zuerst im österreichischen Nationalpark Hohe Tauern, dann in den Savoyer Alpen und ab 1991 erstmals im Engadin. Um die so in Freiheit ausgesetzten Vögel beobachten und kontrollieren zu können, wurden bei einigen nicht nur GPS-Sender angebracht, sondern auch einzelne Flügelfedern mittels Wasserstoffperoxidpaste gebleicht. Dadurch kann man sie im Flug besser erkennen. Zur Freude der Initianten des Wiederansiedlungsprojekts sind bis ins Jahr 2020 in der Schweiz 22 Brutreviere bekannt. Im gesamten Alpenraum sind bisher 36 Jungvögel in freier Wildbahn geschlüpft, einer davon letztes Jahr im westlichen Berner Oberland. Wo genau dies passierte, wird aus Schutzgründen nicht kommuniziert.
Die fliegende Gesundheitspolizei
Bartgeier sind meistens zwischen 1600 und 3000 m ü. M. zu beobachten. Sie haben bis zu 350 Quadratkilometer grosse Reviere und können diese oft stundenlang ohne Flügelschlag überfliegen, indem sie jeweils die aufsteigende Thermik nutzen. Ausgewachsene Bartgeier erreichen eine enorme Flügelspannweite von bis zu 2,90 Metern und ein Gewicht von 5 bis 7 Kilogramm.
Als Bartgeier noch gejagt wurden, wusste man nicht, dass sie sich zu 80 Prozent von Knochen ernähren. Diese entnehmen sie verunfallten oder von Adlern geschlagenen Tieren, deren Kadaver am Schluss liegen bleiben. So sind Bartgeier sogar eine Art Gesundheitspolizei und tragen dazu bei, dass sich keine Seuchen und Krankheiten von herumliegendem Aas verbreiten. Sie vermögen ganze Knochenteile von bis zu 18 cm zu schlucken, die dann von agressiven Magensäften zersetzt und verdaut werden. Grössere Knochen werden bis zu 50 Meter hoch in die Luft getragen und dann auf Felsplatten fallen gelassen, wo sie zersplittern und geschluckt werden können. Aus diesem Grund wird der Bartgeier in Spanien auch «Quebrantahuesos» genannt, was übersetzt Knochenbrecher heisst. Jungvögel werden in der Aufzuchtphase mehrheitlich mit Muskelfleisch gefüttert. Bartgeier sind somit keine Raubvögel wie Adler und Falken. Ihre relativ flach gekrümmten Krallen erlauben es ihnen gar nicht, ein Beutetier zu schlagen oder es wegzutragen.
20 000 Franken Busse für einen Wilderer
Bartgeierpaare beginnen schon im Herbst mit dem Bau ihres Horsts, der nach jahrelanger Nutzung enorme Dimensionen erreichen kann. Man fand schon Exemplare von bis zu 2,50 Metern Breite und 1,60 Metern Höhe. Die Horstmulde wird mit Schafwolle und ähnlichem Isoliermaterial ausgepolstert, da die Vögel schon zwischen Dezember und Januar mit der Eiablage beginnen. Meistens legt der Bartgeier insgesamt zwei Eier im Abstand von einer Woche. Nicht selten kommt es zum sogenannten «Kainismus» (der Tötung eines jüngeren Geschwistervogels durch einen älteren), sodass oft nur ein Jungvogel heranwächst. Die Brutdauer beträgt rund 55 Tage und die Nestlinge fliegen etwa Mitte März nach 120 Tagen aus. Für die Nahrungsbeschaffung der Altvögel ist dieser Zeitraum ideal, da vielerorts Lawinenopfer wie Gämsen und Steinböcke ausapern.
Die zurzeit etwas über 300 Bartgeier, die im gesamten Alpenraum leben, sind streng geschützt. Trotzdem wurde noch 1997 ein Wilderer erwischt, der einen beringten Vogel aus dem Wiederansiedlungsprojekt erlegte und mit 20 000 Franken gebüsst wurde.
Der Gänsgeier (Gyps fulvus)
Gänsegeier sind noch nicht als Brutvögel in der Schweiz registriert, werden aber von Jahr zu Jahr regelmässig bei längeren Aufenthalten auf dem Durchzug beobachtet. So wurden 2007 insgesamt 171 Exemplare gezählt. Ein bekanntes Beobachtungsgebiet liegt in der Freiburgischen Kaiseregg, wo sich fast jedes Jahr über die Sommermonate bis zu 50 Vögel einfinden. Das Hauptverbreitungsgebiet in Europa befindet sich in Spanien, wo im Jahre 1999 rund 22 000 Brutpaare gezählt wurden. Auch Frankreich verzeichnet von Jahr zu Jahr immer mehr Brutpaare, die sich in den Zentralalpen ansiedeln.
Gänsegeier sind im Gegensatz zu Bartgeiern Koloniebrüter. In steilen, unzugänglichen Felswänden finden sich oft bis zu 100 Brutpaare ein. Die Horste sind dort meistens in überhängende Felsnischen gebaut, in die jeweils nur ein Ei mit der Grösse von circa 7 × 9 cm gelegt wird. Dieses wird ungefähr 50 Tage lang bebrütet. Zwischen Juli und August verlassen die Jungvögel das Nest und streifen dann in kleineren Gruppen im Brutgebiet umher, bevor sie dieses verlassen.
Gänsegeier sind Aasfresser. Ihre Flügelspannweite umfasst rund 2,70 m und ihr Gewicht beträgt 7 bis 11 kg. Eine Gefahr für diese Riesenvögel sind die auf Bergketten aufgestellten Windenergieanlagen mit den sich drehenden Rotorblättern, mit denen sie oft kollidieren und verletzt oder tot abstürzen.
BERT INÄBNIT, SCHÖNRIED