QUERGESEHEN – Warum so wehleidig?

  09.11.2021 Kolumne

Warum so wehleidig?

«Ich bin ein Opfer, also bin ich»: Quer durch die Bevölkerungsschichten gibt es kaum eine Befindlichkeit, die unsere Epoche so prägt wie das Gefühl, ein Opfer zu sein. In einer Zeit zunehmender Vereinzelung wirkt das Opfer-Dasein offenbar auf wohltuende Weise identitätsstiftend.

Nun gibt es auf der Welt leider Abermillionen von Menschen, die tatsächlich unter Ungerechtigkeit, Mangel, Anfeindung, Erniedrigung, Gewalt und Unterdrückung leiden. Von ihnen ist hier nicht die Rede. Vielmehr geht es um jene, deren Opferstatus aus einem blossen Sich-beleidigt-fühlen besteht. Wir finden die Beleidigten bei den Frauen und den Angehörigen der Queer-Community, die sich angesichts von nicht gendergerechtem Reden und Schreiben gleich aus der ganzen Gesellschaft ausgeschlossen wähnen. Ähnliche Überempfindlichkeit trifft man bei «People of Colour» («Farbige» soll man sie aus Gründen der politischen Korrektheit nicht nennen), die schon nur die gutgemeinte Frage nach ihrer ursprünglichen Herkunft als Akt der Diskriminierung verstehen. Und wer das selber nicht so empfindet, dem versuchen empörungswillige AntirassistInnen das angesagte Opfer-Feeling nahezulegen. An Hochschulen werden gelegentlich unpassend konservative Referenten «gecancelt» – zartbesaitete Studierende könnten sonst leidvolle Irritationen erfahren.

Doch das Opfergehabe grassiert nicht nur im linken Spektrum. Ebenso gerne zelebrieren Anhänger rechter Parteien ihr angebliches Opferdasein: Die deutsche AfD jammert über den Medien- «Mainstream», der systematisch ihre E rkenntnisse totschweige. Corona-Massnahmen-Gegner klagen trotz medialer Dauerpräsenz, sie würden mit ihrer Sichtweise «nicht ernst genommen», ohne Zertifikat werde man zum «Bürger zweiter Klasse». Und die SVP erklärt neuerdings das Schweizer Landvolk zum Opfer der «schmarotzenden» links-grünen Städte. Die Landbevölkerung wurde dazu natürlich nicht befragt – es geht schliesslich nur darum, für Wahlkampfzwecke ein ländliches Opferbewusstsein herbeizureden.

Der italienische Literaturwissenschaftler und Publizist Daniele Giglioli sagt dazu: «Das Opfer ist der Held unserer Zeit. Sein Status als Opfer verspricht höchste Anerkennung, erzeugt machtvolle Ansprüche und ist über jede Kritik erhaben.»
Etwas weniger Wehleidigkeit allenthalben könnte also nicht schaden.

TONI KOLLER

TONI_KOLLER@BLUEWIN.CH


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