UNTERLÄNDER IM OBERLAND – Jetzt ist irgendwann …

  23.11.2021 Kolumne

Mein Freund vergisst.
Sein Gedächtnis ist wie ein Stück Holz in einem träge fliessenden Fluss – es treibt langsam davon.

Er entschwindet mir. Tag für Tag. Monat für Monat. Stets einen Wellenschlag mehr. Und er ist immer ein bisschen weniger all das, was ihn ein Leben lang ausmachte.
Aber das Schöne: Sein Langzeitgedächtnis funktioniert. Und deshalb fragt er mich als Erstes jeden Morgen: «Fahren wir heute zu den schwarzen Vögeln …?»
«Nein», sage ich. Und nehme seine Hand: «Morgen ist Arzttermin. Und jetzt ist es in Adelboden eisig kalt. Wir dürfen keinen Sturz riskieren. Keine Erkältung. Aber irgendwann gehen wir wieder hin …»
«Wann ist irgendwann …?»
«Bald.»
Schliesslich steigen wir ins Auto. Und fahren aus dem Unterland ins Oberland. Der Garten ist verwildert. Und das kleine Haus am Chuenisbärgli schaut uns vorwurfsvoll an: «Wo seid ihr so lange gewesen?»
Drinnen ist es kalt. Und in einer Vase stecken drei verdorrte Rosen. Sie sind noch aus der blühenden Zeit.

Hals über Kopf sind wir damals weggejagt, als Chris plötzlich hohes Fieber bekam. Sein Immunsystem war nach der Chemotherapie im Keller. Er musste ins Spital. Dann lebten wir einen Sommer im Unterland. «Ich vermisse die Bergdohlen», hat Christoph jeden Tag wiederholt. Morgen für Morgen. Und: «Wann fahren wir wieder hin …?» «Irgendwann.» «Wann ist irgendwann?» «Bald.»

Jetzt schaut er aus dem Fenster. Draussen ist es grau. Er schweigt lange. Dann: «Dort hat einer gebaut. Das ist riesig …» Ich gehe zu ihm: «Das ist das neue Haus von Peter. Erinnerst du dich? Er hat im Frühling noch selbst betoniert. Du hast immer seinem Kran zugeschaut. Und ihm eine Flasche Wein gebracht …»
«Wer ist Peter?»

Ich drehe die Heizung auf «hoch» und stelle den Teekessel auf die Herdplatte. Schon ist es ein bisschen gemütlicher.
Christine, die Nachbarin, klopft: «Ich habe das Auto gesehen. Schön, dass ihr da seid. Ich bringe nachher frische Butter …» Sie lacht: «Guten Tag, Christoph – hoffentlich habt Ihr ein paar sonnigere Tage als heute …»
«Es wird schon werden …», lächelt er zu Christine zurück.
Und zu mir: «Wer ist das?»

Er kann stundenlang am Fenster sitzen und den Wildstrubel betrachten. Immer wieder fragt er: «Wann kommen die Bergdohlen …?» «Irgendwann», sage ich. Er schaut zu den Bergen: «Wann ist irgendwann?»

Eines Morgens ruft er mich vom Computer weg: «Sie sind da – schau dort, die schwarze Wolke!»
Tatsächlich schwebt ganz weit weg ein dunkler Schleier durch den grauen Tag. Schliesslich machen die Vögel in unserem Garten halt. Sie schauen zur Türe. So wie sie schon bei meinem Vater immer gespäht und auf sein Kommen mit den Brotwürfeln gewartet haben.
«Sie sind hier!», strahlt Christoph.
Den ganzen Sommer lang hat er seine Brotreste gesammelt. Er humpelt mit dem Sack vor die Türe. «Jetzt ist irgendwann!», lächelt er glücklich.

- MINU  MINU@MINUBASEL.CH


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