Wegmarken der Integration
23.11.2021 AdelbodenDie Eltern kamen aus dem Kosovo, schufteten in Adelbodner Hotels und Gaststätten. Ihre Tochter Kaltërina Latifi hat es zur Literaturwissenschafterin und Essayistin gebracht. Eine nicht alltägliche Immigrationsgeschichte.
TONI KOLLER
Es war im Jahr 1989, als die ...
Die Eltern kamen aus dem Kosovo, schufteten in Adelbodner Hotels und Gaststätten. Ihre Tochter Kaltërina Latifi hat es zur Literaturwissenschafterin und Essayistin gebracht. Eine nicht alltägliche Immigrationsgeschichte.
TONI KOLLER
Es war im Jahr 1989, als die Latifis ihre Tochter aus dem Kosovo nach Adelboden holten. Sie war fünf Jahre alt und sollte in der Schweiz zur Schule gehen. Herausgerissen aus dem wohlbehüteten Aufwachsen bei den Grosseltern, war die Ankunft in Adelboden für das Mädchen ein ordentlicher Schock. Ihre Eltern hatte Kaltërina zuvor nur selten gesehen; zunächst waren sie ihr fremd. «Und im Kindergarten war ich das einzige Ausländerkind, ein Aussenseiterdasein. Ich konnte nur albanisch, hatte keine ‹Verbündeten›, verstand kein Wort», erinnert sie sich. Weil beide Eltern damals im «Alpenblick» arbeiteten – der Vater in der Küche, die Mutter kümmerte sich um die Wäsche –, musste sich das Kind allein auf den Weg in den Kindergarten machen: «Wenn dieser Uhrzeiger hier oben steht, gehst du los», sagte ihr die Mutter jeweils nach dem Frühstück. Es sei schon schwer gewesen, weiss die heute 37-Jährige. «Aber wenn du ins Wasser geschubst wirst, lernst du schwimmen.» Und das aufgeweckte Mädchen lernte schnell: die Gebräuchlichkeiten, die Sprache – auch «Adelbodetütsch».
Ein «spezielles» Kind
Später verlegte die Familie Latifi ihren Wohn- und Arbeitsort mehrfach vorübergehend in die Region Bern; in Adelboden verbrachte Kaltërina insgesamt etwa drei Jahre ihrer Kindheit und besuchte im Dorfschulhaus die erste, dritte und die Hälfte der vierten Klasse. Hier gab es dann zur Verbesserung der Deutschkenntnisse auch etwas Unterricht eigens für Ausländerkinder. «Obs was gebracht hat, weiss ich nicht. Man wächst irgendwie hinein, und irgendeinmal kann mans einfach.» Es zeichnet sich wohl hier schon ab, dass Kaltërina Latifi die Sprache dereinst zu ihrem Beruf machen wird.
«In der dritten Klasse gab es einen Buben, der eben erst frisch aus dem Kosovo zugezogen war», besinnt sie sich. «Mein Job war es, ihn zu ‹coachen› und ihn ins Adelbodner Kinderleben einzuführen. Das war anspruchsvoll für eine Neunjährige.» Unterstützt hat sie dabei eine Lehrerin, «die ich sehr gerne gehabt habe und die mir immer ein Vorbild war: Regula Grunder». Diese erinnert sich heute an ein «sehr besonderes Kind – scheu, irgendwie herb und von grosser Ernsthaftigkeit. Man sah dem ‹Käthi› an, dass sie viel nachdenkt. So jemanden vergisst man nicht.» Regula Grunder und Kaltërina Latifi stehen denn auch heute noch in Kontakt.
Zwischen unterschiedlichen Welten
Wie wurden die Latifis damals in Adelboden aufgenommen? «Vor allem für die Eltern war es schwer: Sie hatten Mühe mit der Sprache; neben der Arbeit beschränkte sich das Leben auf den Familienkreis.» Und dann war da ihre dauernde Angst, einen Fauxpas zu begehen, örtliche Sitten und Bräuche aus Unkenntnis zu wenig zu respektieren. Eine Art Grundangst, die manches Migrantenleben durchzieht. «Sie hat auch mich lange verfolgt», sagt Kaltërina Latifi – in breitem Berndeutsch. Denn nach Bern ist ihre Familie im Februar 1994 endgültig umgezogen. Das brachte ihr eine weitere Auswanderungserfahrung: «Tatsächlich ist es so, dass ich dann in Bern etwas ausgelacht wurde ob meines Oberländer Dialekts …» Erst damals sei ihr klar geworden, dass es in der Schweiz unterschiedliche Mundarten gibt. Heute hat sie jene aus Adelboden vergessen – «nur das lustige Wort ‹umi› ist mir noch sehr präsent». Und von den Bildern, die als Kindheitserinnerung bleiben, ist es die Adelbodner Dorfkirche. «Da haben wir oft gespielt, sind verbotenerweise auf den Baum dort geklettert.» Auch die gute Luft und vor allem die Berge hätten das Kosovo-Kind tief beeindruckt. «Ja, Adelboden hat mich geprägt.» Vor etwa zwei Jahren war sie mit ihrer Mutter letztmals dort zu Besuch – bei ihrer früheren Lehrerin.
Der Weg zur Literatur
Doch was Kaltërina Latifi noch mehr prägte, war – schon mit vierzehn Jahren – die Lektüre der Werke von Max Frisch. So erwarb sie nach der Schulzeit in Bern eine Berufsmatura in La Neuveville und bestand die Zulassungsprüfung zur Universität Lausanne, um Germanistik und Philosophie zu studieren. Es folgte ein Studium in Editionswissenschaft und Textkritik an der Universität Heidelberg, wo sie 2015 mit einer Arbeit zu E.T.A. Hoffmann doktorierte. Als Habilitandin an der Universität Göttingen und Forscherin an einer Londoner Universität pendelt sie heute zwischen England und Deutschland und schreibt über Dinge wie «Übersetztes Sein (oder Nichtsein): Shakespeares Hamlet als kulturontologisches Paradigma bei August Wilhelm Schlegel und Theodor Fontane». Wer Verständlicheres mag, lese ihre Kolumnen im «Magazin» des «Tages-Anzeigers».
Ein steiler Aufstieg für ein kosovarisches Gastarbeiterkind. «Früh schon an verschiedensten Orten gelebt haben, den eigenen Weg gehen, sich auf sich selber verlassen», das sind Kaltërina Latifis Rezepte. Ihr erstes eigenes literarisches Werk soll im Frühjahr erscheinen: eine Sammlung von Kurzgeschichten. Auch Adelboden wird darin auftauchen.