BLICK IN DIE WELT – Dies ist kein Jahresrückblick
31.12.2021 KolumneDies ist kein Jahresrückblick
Mich irritieren Jahresrückblicke, wie sie im Moment auf allen möglichen Wegen in unsere Stuben flattern und flimmern, Jahr für Jahr. Nicht, weil ich etwas gegen die Retrospektive an sich habe. Sondern weil Jahresrückblicke häufig einen ...
Dies ist kein Jahresrückblick
Mich irritieren Jahresrückblicke, wie sie im Moment auf allen möglichen Wegen in unsere Stuben flattern und flimmern, Jahr für Jahr. Nicht, weil ich etwas gegen die Retrospektive an sich habe. Sondern weil Jahresrückblicke häufig einen Anspruch haben, den sie nicht erfüllen können: Sie wollen die Geschehnisse eines Jahres in ein grösseres Ganzes einordnen. Dabei zeigt sich schon seit Tausenden von Jahren, dass Geschichtsschreibung und Einordnung erst nach einer gewissen Zeit seriös möglich sind.
Eines der spannenderen Beispiele für wechselnde Einordnungen ist die Schlacht bei Poitiers und Tours im Jahre 732: Der fränkische König Karl Martell wehrte dort einen Angriff der muslimischen Araber ab, die auf der iberischen Halbinsel schon ein Kalifat errichtet hatten. Das Besondere daran ist, dass die zeitgenössischen Geschichtsschreiber diesen Konflikt als «normale» Schlacht bewerteten und erst viel später die Erkenntnis aufkam, dass Karl Martell an diesem Datum die «Islamisierung des Abendlandes» abgewehrt hatte. Und noch einmal viel später untersuchten Historiker, was der Grund für Karls Sieg gewesen war. Es seien die Steigbügel gewesen, welche den Franken zum Sieg verholfen hätten, meinen viele Geschichtswissenschaftler. Damit seien die zu Pferde kämpfenden Ritter Martells mit ihren Äxten und Lanzen viel stärker gewesen als die Araber ohne Steigbügel.
Die Steigbügel, an denen der Sieg im Nachhinein festgemacht wird, waren bei keiner zeitgenössischen Schilderung der Schlacht ein Thema – dafür aber der angeblich heldenhafte Kampfesmut der Franken. Dass so ein kleines Teil wie ein Steigbügel so entscheidend war für Sieg oder Niederlage, konnte erst lange nach der Schlacht nachgewiesen werden.
Ich bin überzeugt, dass das Jahr 2021 auch in irgendeiner Weise Geschichte schreiben wird. Allerdings wäre es vermessen, wenn ich an dieser Stelle behaupten würde, den Steigbügel dieses Jahres schon gefunden zu haben. Wer weiss, vielleicht sind es die Glarner, die in diesem Jahr an der Landsgemeinde Öl- und Gasheizungen verboten haben? Oder es war die Annahme der Pflegeinitiative im November? Oder vielleicht doch etwas Grösseres? Die erstmalige breite Anwendung der mRNA-Technologie vielleicht? Oder geht es doch in eine andere Richtung: Sind die Freiheitstrychler ein Vorbote für einen Bürgerkrieg? Oder Präsident Biden für einen globalen Frieden? Meiner Meinung nach sollten uns Jahresrückblicke vor allem eines lehren: Demut. Wir werden nie wissen, an welcher Stelle der Geschichte wir uns gerade befinden, solange sie noch nicht zu Ende geschrieben ist. Es ist darum vermessen, wenn jemand die Deutungshoheit absolut für sich beansprucht.
Allerdings soll das unsere Gesellschaft nicht daran hindern, Diskussionen über die Richtung zu führen, in die sie sich entwickeln soll. Aber nur mit dem Bewusstsein, dass niemand behaupten kann, die endgültige Wahrheit zu kennen, kann man echte Diskussionen führen. Nämlich solche, bei denen es nicht darum geht, dem Gegenüber die Wahrheit einzutrichtern. Sondern darum, der anderen Person einen Perspektivenwechsel zu ermöglichen, damit die individuellen Meinungen von einer breiteren Erfahrungspalette abgestützt werden. Das – so hoffe ich – könnte dazu führen, dass sich unsere Gesellschaft wieder als Ansammlung von ganz verschiedenen Individuen versteht, in der jedes einzelne Teilchen der Gesellschaft eine eigene Sicht auf die Welt hat. Und dass diese Sicht grundsätzlich nicht gut oder schlecht ist. Oder beweisen Sie mir das Gegenteil?
SEBASTIAN DÜRST
SEBASTIAN.DUERST@BLUEWIN.CH