DOPPELLEBEN EINER STREBERIN
Kennen Sie diesen Typus Streber, der in jedem Fach brilliert und es dabei trotzdem schafft, wahnsinnig beliebt zu sein? Die Stadt, in der ich studiert habe, ist so eine Streberin: Münster in Westfalen. Nicht nur ist sie mit ihren vielen Kirchen ...
DOPPELLEBEN EINER STREBERIN
Kennen Sie diesen Typus Streber, der in jedem Fach brilliert und es dabei trotzdem schafft, wahnsinnig beliebt zu sein? Die Stadt, in der ich studiert habe, ist so eine Streberin: Münster in Westfalen. Nicht nur ist sie mit ihren vielen Kirchen und der zauberhaften Altstadt ein begehrtes Ausflugsziel, sondern dank der zehn Hochschulen auch ein Hotspot für Akademiker. Von den rund 300 000 Einwohnern sind mehr als 60 000 Studierende, die etwas Leben in die einstige Provinz bringen. Heuer geniesst Münster einen Ruf als sympathische, weltoffene Stadt, die sich gern als Klassenprimus hervortut. Zum Beispiel bei der Bundestagswahl 2017: Münster war deutschlandweit der einzige Wahlkreis, in dem die rechtspopulistische AfD an der 5-Prozent-Hürde gescheitert ist. Mit diesem Sonderstatus hat die Stadt es in die «Tagesschau» und in eine Satiresendung geschafft. In Corona-Zeiten sticht sie oft als Niedriginzidenzgebiet hervor – was wiederum mit der hohen Impfdisziplin zu tun hat. 94 Prozent der Münsteraner sind geimpft. Und als wäre all das nicht genug, hat der Ort auch noch das mit Abstand beliebteste «Tatort»-Duo.
Doch so viel Strebsamkeit macht verdächtig. Ich glaube ja, dass die meisten Münsteraner ein Doppelleben als Fahrraddiebe führen. Bei 500 000 «Leezen» mangelt es auch nicht an Beute. Münster belegt Platz 2 im deutschen Velodiebstahlranking und kommt auf 1416 Fälle pro 100 000 Einwohner – eine Hochinzidenz, gegen die kein Impfstoff wirkt. Auch mir sind damals mindestens fünf(!) Räder entwendet worden. Weil eines davon noch neu war, meldete ich es als gestohlen. Ich erwartete nicht, dass der Fall je aufgeklärt würde. Offensichtlich brodelt ja in den ach so vernünftigen Münsteranern jede Menge kriminielle Energie. Warum sonst ist ihr offizieller Dialekt – Masematte – eine Gaunersprache? Womöglich suchen sie nachts den Ausgleich für ihr Streberdasein und rauben schlafwandelnd Räder.
Warum ich das alles erzähle? Vor einigen Tagen bekam meine Mutter einen Brief vom Fundbüro der Stadt Münster. Man habe mein Velo wiedergefunden. Nach fast neun Jahren! Entweder hat sich also das Gewissen des Streberdiebs durchgesetzt – oder Münsters Behörden sind so strebsam, dass sie die Stadt jahrelang nach alten Rostlauben durchkämmen. Was wäre sympathischer?
BIANCA HÜSING
B.HUESING@FRUTIGLAENDER.CH