Suuri Nidle u Blaue Chueche
24.12.2021 GesellschaftWEIHNACHTSGESCHICHTE Am Heiligen Abend ist manches kompliziert und manches ganz einfach. So braucht es für die Rettung des Festes mitunter bloss ein paar Konservendosen – und ein bisschen Zeit.
Es begab sich zu der Zeit, als im Frutigland leise der Schnee rieselte und ...
WEIHNACHTSGESCHICHTE Am Heiligen Abend ist manches kompliziert und manches ganz einfach. So braucht es für die Rettung des Festes mitunter bloss ein paar Konservendosen – und ein bisschen Zeit.
Es begab sich zu der Zeit, als im Frutigland leise der Schnee rieselte und es still wurde in der Abenddämmerung von Heiligabend. Der Vater machte das spärliche Licht im Stall aus und trat aus der Kälte über die hohe hölzerne Schwelle in die warme Wohnung. Mit seinen von der Kälte geröteten Backen passte er gut zur Kinderschar, die, ebenfalls mit gesunder Farbe im Gesicht, ausgelassen in der Küche herumwirbelte. Die Mutter füllte gerade den grossen Wäschekorb mit einem frisch gebackenen, noch warmen Zopf sowie einer einheimischen Spezialität, dem «Blauen Kuchen», und hübsch verpackten Geschenken.
Der Vater liess sich Zeit und wusch sich den strengen Stallgeruch vom Körper, ohne sich von den quengelnden Kindern, die ihn aufforderten, sich doch zu beeilen, stören zu lassen. Dann wurden die Lichter in der Wohnung gelöscht und wir machten uns endlich auf den Weg zu Heiligabend.
Der Vater lenkte unseren kleinen Wagen durch den frischen Schnee, vorbei an der Strassenlaterne, in deren Licht quirlige Schneeflocken tanzten, und vorbei am Haus von Lotte, unserer Nachbarin. Ein schwaches Licht brannte dort im Fenster. Ich hatte Lotte nicht gern: sie mochte keine Kinder. Vor allem keine, die Fahrrad und «Trättitraktor» fuhren, Verstecken spielten ums Haus herum, sie mochte keine verkleideten und heulenden Indianer, die dem Gartenzaun entlang hetzten und schon gar keine kreischenden und lärmenden Kinder, die auf der Strasse «Räuber und Poli» spielten. Somit mochte sie uns nicht, lugte meist grimmig hinter dem Vorhang hervor und zeterte oft mit erhobenem Finger von ihrem Grundstück aus, dass wir endlich still sein sollten.
Obwohl ich Lotte nicht gern hatte, fragte ich mich, was sie wohl an Heiligabend so machte? Wahrscheinlich war ihr ja nicht zum Feiern zumute, da das Christkind ja auch ein Kind war? Bestimmt ass sie heute Abend Ravioli, stellte ich mir vor. Lotte verliess ihr Heim nur selten, und wenn, dann nur, um im Dorfladen einzukaufen. Lotte ernährte sich ziemlich sicher aus Konservendosen, dachte ich. Viele solcher Dosen mussten das sein. Ich sah einen riesigen Keller vor mir, bis oben hin gefüllt mit den Büchsen…
Der Schein des rotgefärbten Herrnhuter Sterns riss mich aus meinen Gedanken. Wir waren da.
Es war nämlich eine Zeit, wo sich an Heiligabend noch die ganze Verwandtschaft im Bauernhaus der Grosseltern versammelte. Die Mütter wehten in frischen Kleidern und mit ebenso frischen Dauerwellen die blitzblank gefegte Treppe hinauf, während sie uns Kinder ermahnten, uns am Tisch anständig zu benehmen und unsere Päcklineugierde im Zaum zu halten. Die verwitwete Grosstante hatte die grossen Tobleronen im Plastiksack aus der EPA mitgebracht, der Grossvater mit seinen von harter Arbeit gezeichneten, schwieligen «Chnodi», wie er seine Hände nannte, schnitt den Fruchtsalat und gab, ohne an unsere zarte Kinderleber zu denken, einen Schuss Birnenschnaps dazu. Wir Kinder hockten alle schön fönfrisiert am Kindertisch, und nur die zuckenden, unruhigen Füsschen verrieten die schiere Ungeduld und Anspannung. Der Grossonkel hatte seine Lieblingsrotweinflaschen dabei – ich glaube mich zu erinnern, dass es sich jedes Jahr um einen Mercurey handelte, der vom Onkel brav bestaunt und gewürdigt wurde.
Und in all diesem Gewusel von Grosskindern, Grosstanten, Onkeln, Kindern und Schwiegertöchtern stand sie da, am Herd. Die Alleinherrin der Kochplatten, der grossen Töpfe, die Hüterin des Lebkuchenrezepts, Besitzerin und Kreativdirektorin der Weihnachtsstube und vor allem die Köchin des Weihnachtsmenus: meine Grossmutter. Nicht sehr gross gewachsen, wache Augen, ein von zahlreichen Falten gefurchtes Gesicht, toupiertes Bürzi, ein energisches Kinn, Oktoberfestwaden und mit einem Herz aus Gold – nicht immer auf Hochglanz poliert, aber aus Gold.
Das Weihnachtsmenu hatte eine jahrzehntelange Tradition und war der grosse Stolz der Grossmutter: Blätterteigpastetli mit Kalbsfleischfüllung und Zuckerhutsalat. Und schon damals gabs eine Vegivariante mit Champignonsauce und – ohne Bitterstoffe – einem Schüsseli Salatgurke für die Grosstante.
Die Grossmutter hatte das Monopol auf ihr Rezept. Niemand schaffte es, ihre Sauce nachzukochen. Wenn man sie nach dem Rezept fragte, meinte sie stets, sie koche «denk einfach». Chli vo dämm und vo dämm halt, weitere Erläuterungen gab es nicht. Und so blieb allen Pastetliliebhabern nur die Hoffnung, dass Grossmutter mindestens 100 Jahre alt und doch noch ein Rezept in ihrem Nachlass zu finden sein würde.
Aber zurück an den Herd. Die Grossmutter hievte also den riesigen Topf Pastetlisauce auf die Platte und rührte sichtlich stolz die sich erwärmende Sauce, während sich die Blätterteigpastetli im Backofenlicht sonnten. Die Tischgesellschaft unterhielt sich laut und angeregt, als müssten sie das Knurren der hungrigen Mägen übertönen. Es wurde über die erste Bundesrätin, die Sonntagspredigt, Glück und Pech im Stall diskutiert, man gab alte Geschichten aus dem Militär zum Besten ...
Plötzlich verebbten die angeregten Gespräche, damals litt nämlich noch kaum jemand unter Geruchs- oder Geschmacksverlust. Alle Anwesenden schienen etwas zu wittern – und das war nicht der gewohnte Duft nach Pastetlisauce. Es roch eindeutig nach Fondue!
Beunruhigt begaben sich die Töchter und Schwiegertöchter zur Grossmutter an den Herd und flüsterten geheimnisvoll. Meine Mutter führte einen «Suppelöffel» Pastetlisauce zu den geschürzten Lippen. Als hätte sie einen Schluck Javelwasser zu sich genommen, wich alle Farbe aus dem Gesicht von meinem Mueti. «D Nidle isch dürikitt…!!», hauchte der Mundschenk. Suuri Nidle, sauer gewordener Rahm. Im Weihnachtsmenu.
Ein Moment der Grabesstille. Die Grossmutter erstarrte, der Grossonkel nahm einen ordentlichen Schluck Mercurey, die Grosstante kniff die Augen zusammen und klammerte sich an ihr Gurkenschüsseli. Allen war klar: DAS, würde Grossmutter nicht überleben. Bange Sekunden verstrichen, die Grossmutter war leichenblass – aber sie lebte.
Was nun? In Anbetracht der ungefüllten Blätterteigpastetli, von Zopf und blauem Kuchen schluckten wir trocken. «Haben wir Brätkügelisauce aus der Dose im Haus?» fragte Grossvater mit rauer Stimme. Hatte ich richtig gehört, Dosen? Konservendosen? «Lotte!!», hörte ich mich rufen.
Heute stelle ich mir vor, dass Lotte über die Heiligabendklingel wahrscheinlich genauso erschrocken sein musste, wie Grossmutter ob ihrer sauren Pastetlisauce. Mit dem «Blauen Kuchen» aus dem Wäschekorb unter dem Arm stand ich an der Hand meines Vaters vor Lottes Türe. Wir hörten kurze, trippelnde Schritte, und kurz darauf spähte Lotte misstrauisch hinter dem karierten Küchenfenstervorhang hervor. Der Schlüssel drehte sich im Schloss und die Tür ging auf. «Grüess Gott, Lotte, nichts für ungut, dass wir an Heiligabend stören…» Während mein Vater Lotte unsere «Suuri Nidle»- Weihnachtsgeschichte erzählte, liess ich meinen neugierigen Blick an Lotte vorbei in die kleine Küche schweifen. Auf dem Tisch eine kleine Schale aus Steingut, gefüllt mit dampfender Suppe, daneben ein gebrochenes Brötchen. Keine Ravioli – und auch keine Pastetlisauce, die wir so dringend benötigten. Zu meinem Erstaunen erkannte ich auf der Küchenablage ein Bild mit dem heiligen Paar, Engeln, Hirten, Schafen und: dem Christkind! Ausgerechnet Lotte, die doch keine Kinder mochte, ass im Angesicht des Jesuskinds seelenruhig Znacht!
Lotte bat uns herein, verschwand hinter einer weiteren Türe, die wahrscheinlich in den Keller führte, um gleich darauf mit einem Korb zurückzukehren. Darin lagen ein paar Konservendosen mit Brätkügeliaufschrift. Mein Vater bedankte sich herzlich und stupste mich an, Lotte zum Dank den mitgebrachten Blauen Kuchen zu überreichen.
Als ich Lotte den Kuchen mit beiden Händen entgegenstreckte, hellten sich ihre Gesichtszüge auf: «Aber der ist doch viel zu gross für mich! Setzt euch und esst auch ein Stück.»
Nun sassen wir also buchstäblich in der Blätterteigklemme zwischen Grossmutter und ihren Pastetli und Lottes Blauem Kuchen. Notgedrungen nahmen wir also einen Moment Platz an ihrem Tisch. Es fielen keine grossen Worte. Vater fragte nach dem Befinden, ich hörte Worte von Lotte wie Schmerzen und etwas von «einsam sein». An den genauen Gesprächsinhalt kann ich mich nicht erinnern. Ab und zu wagte ich einen Blick zu Lotte und staunte über ein Lächeln um ihren schmallippigen Mund. Es war keine Viertelstunde vergangen, als mein Vater sich erhob, herzlich für die Hilfe in der Not dankte und andeutete, dass Grossmutter wohl in grosser Sorge sei, da sie ihre Liebsten nicht bewirten könne.
Lotte schloss die Türe hinter uns, Vater ging mit festen Schritten zum Wagen und ich huschte hinterher. Plötzlich fühlte ich mich beobachtet und blickte kurz über meine Schulter zurück zu Lottes Haus. Dort, hinter dem Vorhang, sah ich ihr sonst grimmiges Gesicht entspannt und kaum merklich lächelnd. Lotte hob die Hand, wie sie es jeweils tat, wenn sie den Finger hob und zeterte. Doch diesmal winkte sie mir kurz und etwas unbeholfen zu. Ich lächelte zurück, winkte auch und nahm mir vor, das nächste Mal mit meinem Trättitraktor bei Elise über das Schotterwägli zu fahren statt bei Lotte.
An diesem Abend sangen wir ein bestimmtes Weihnachtslied mit einem breiten Lachen auf dem Gesicht, «O du fröhliche», sogar Grossmutter. Ohne Stosslüften. Das waren noch Zeiten! Zeiten, in denen noch suuri Nidle und Blauer Kuchen das Tischgespräch dominierten – und die Lotte, die immerhin das Christkind mochte. Und doch gab es die dunklen, einsamen Momente auch schon in diesen Zeiten, die durch einen kurzen Moment der Gemeinschaft chli erhellt wurden. 15 Minuten und ein Blauer Kuchen können reichen.
Frohe Weihnachten!
ANDREA BALMER-BEETSCHEN