JUSTIZ. Das Regionalgericht Oberland hat am vergangenen Freitag eine Frutigländerin vom Vorwurf des unanständigen Benehmens freigesprochen. Die Beschuldigte lieferte eine plausible Erklärung für ihren emotionalen Ausbruch gegenüber einem Polizeibeamten.

PETER SCHIBLI
Am 5. Februar 2021 hatte die Beschuldigte gemeinsam mit ihrem Partner ein Detailhandelsgeschäft im Tal besucht und sich dort geweigert, eine Hygienemaske zu tragen. Die vom Personal herbeigerufene Polizei führte vor dem Geschäft eine Personenkontrolle durch. Die Frau behauptete, sie besitze ein Attest, das sie vom Tragen einer Maske befreie, konnte aber weder das Attest noch eine Identitätskarte vorweisen. Sie bot aber den Polizeibeamten an, die Dokumente auf dem Weg zum Polizeiposten zu Hause zu holen.

Gemeinsam marschierte man los. Auf dem Weg zum Posten kam es zu einer verbalen Auseinandersetzung über die Rechtmässigkeit der Personenkontrolle. Einer der Polizeibeamten fasste die Frau an der linken Schulter, worauf diese explodierte, auf dem Trottoir «mehrmals lautstark herumschrie und sich gegenüber der Polizei auffällig unkooperativ und respektlos benahm», wie es später in einem Strafbefehl hiess. Der als Zeuge aufgebotene Polizist bestätigte vor Gericht den Sachverhalt und ergänzte, die Frau habe versucht wegzulaufen. Sein Kollege habe ihr vermutlich deshalb an die Schulter gefasst. Beleidigungen seien aber keine gefallen.

Die Beschuldigte besitzt tatsächlich einen Maskendispens. Deshalb erschien sie vor dem Regionalgericht ohne Maske. Auch sie bestätigte den protokollierten Sachverhalt und erklärte, weshalb sie den Strafbefehl nicht akzeptiert habe, der ihr für unanständiges Benehmen in der Öffentlichkeit (ohne Nachtruhestörung) eine Busse von 90 Franken und Kosten in der Höhe von 100 Franken auferlegt hatte.

Sie sei der Meinung, dass die Polizei einen ärztlichen Maskendispens weder verlangen noch einsehen dürfe. Dafür gebe es in der Covid-Verordnung keine rechtliche Grundlage, behauptete sie und berief sich auf den Persönlichkeitsschutz. Auf die Frage, weshalb sie denn gegenüber dem Polizeibeamten derart ausgeflippt sei und in der Öffentlichkeit herumgeschrien habe, als dieser sie anfasste, nannte sie frühere traumatische Erfahrungen als Grund. Sie plädierte auf unschuldig und verlangte einen Freispruch.

Plausibel und nachvollziehbar
Nach einer kurzen Verhandlungspause verkündete Gerichtspräsident Jürg Santschi das Urteil. Zuerst klärte er die Beschuldigte auf, dass die Polizei für Attestkontrollen keine eigene Rechtsgrundlage brauche. Dass Polizisten und Bahnangestellte Maskendispense einsehen dürften, die in aller Regel auch keine vertraulichen Diagnosen enthielten, ergebe sich aus der Covid-Verordnung. Sonst würde die Maskentragpflicht in Zügen oder Verkaufsgeschäften ja gar keinen Sinn ergeben. Da die Staatsanwaltschaft im zweiten Strafbefehl von einer Busse wegen Verstosses gegen die Covid-Verordnung abgesehen habe, müsse er diesen Punkt auch gar nicht beurteilen.

Entscheiden müsse er einzig und allein, ob die heftige verbale Auseinandersetzung zwischen der Beschuldigten und dem Polizisten auf der Strasse den Straftatbestand des unanständigen Benehmens erfülle.

In seiner gewohnt ruhigen und souveränen Art betonte Gerichtspräsident Santschi, dass der Tatbestand rein objektiv zwar erfüllt sei, dass aber die von der Beschuldigten gelieferte Erklärung für den emotionalen Ausbruch für ihn «plausibel und nachvollziehbar» sei. Die gelieferte Begründung reiche ihm für einen Freispruch. Die Kosten der Staatsanwaltschaft und des Gerichts in der Höhe von 860 Franken übernimmt der Kanton. Die Beschuldigte erhält eine Entschädigung von 100 Franken für ihre Umtriebe.

Nachtrag

Der Partner der freigesprochenen Frutigländerin, der kein Maskenattest vorweisen konnte, war im vergangenen Oktober vom Regionalgericht Oberland in Abwesenheit wegen Maskenverweigerung und unanständigen Benehmens zu einer Busse von 190 Franken und zur Übernahme der Kosten in der Höhe von 300 Franken verurteilt worden (der «Frutigländer» hatte darüber berichtet).

PS

Unanständig, aber erklärbar

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