ZWISCHEN BERG UND BERN – Vielleicht, vielleicht auch nicht, vielleicht sowohl als auch
28.12.2021 KolumneVielleicht, vielleicht auch nicht, vielleicht sowohl als auch
Erst seit ich Vater bin, ist mir bewusst geworden, was wir in der Weihnachtszeit für ein Durcheinander haben: Samichlaus, St. Nikolaus, Christkind – wer bringt wann die Geschenke? Es liegt in der Natur der ...
Vielleicht, vielleicht auch nicht, vielleicht sowohl als auch
Erst seit ich Vater bin, ist mir bewusst geworden, was wir in der Weihnachtszeit für ein Durcheinander haben: Samichlaus, St. Nikolaus, Christkind – wer bringt wann die Geschenke? Es liegt in der Natur der Sache: Geschichten existieren in mehreren Versionen, je länger es sie gibt. Und dann überlagern sie sich auch noch: Vermutlich ist Weihnachten, wie andere christliche Feste auch, eine uralte Tradition, verknüpft mit einem biblischen Schlüsselmoment.
Die realen historischen Wurzeln von mythischen Figuren und Ereignissen interessieren mich immer sehr. Zur Frage nach dem historischen Jesus zum Beispiel habe ich weit über 2000 Seiten gelesen. Alle arbeiten sich seit Jahrhunderten durch dieselben Quellen, neben den biblischen Texten sind das auch historische Schriften aus dem damaligen Grossreich Rom. Bei dieser Freizeitforschung bin ich auf flott formulierte Bücher gekommen, die eine bestimmte Theorie über Jesus vertreten und alle Quellen so einordnen, dass sie diese These bestätigen. (Zum Beispiel die Theorie, Jesus sei primär ein politischer Revolutionär wie viele andere gewesen.) Aber ich habe mich auch durch trockene, extrem gründliche wissenschaftliche Werke gequält, in denen keine Theorien aufgestellt, sondern verschiedene Theorien dargestellt und im historischen Kontext auf ihre Wahrscheinlichkeit hin durchleuchtet werden. Dass den Lesenden keine abschliessende Antwort gegeben werden kann, steht dort bereits im Vorwort. Es gibt einfach mehr oder weniger Wahrscheinliches. (Dass Jesus «nur» ein politischer Revolutionär gewesen sei, ist zum Beispiel unwahrscheinlich, weil ihm zu viele originelle theologische Neuerungen zugeschrieben werden.)
Diese wissenschaftlichen Bücher sind bedeutend anstrengender als jene mit den knalligen Thesen. Hier eine der wichtigen Lektionen für mich daraus: Wenn eine Quelle untersucht wird, ordnet man immer auch ein, was das Interesse der Verfasserschaft sein könnte. Wir kennen das z. B. von den verharmlosenden Studien der Zigarettenindustrie. Wer die Studie bestellt, findet einen Weg, die Frage so zu stellen, dass ihm die Antwort passen wird. Ähnliches gilt, wenn jemand eine Geschichte erzählt: Erzählen ist fast unmöglich, ohne dass eine Art «Moral», eine Einteilung in Gut und Böse in der Erzählstimme mitklingt.
Auf der Suche nach einer Art objektiver Wahrheit kommen also vorwiegend jene Erklärungen in Frage, die nicht vor allem dazu dienen, eine bestimmte Theorie zu untermauern. Und beim Prüfen von Quellen erscheinen mir jene Quellen die vertrauenswürdigsten, welche die Ungewissheiten in ihrer eigenen Theorie zugeben und offenlegen.
Aber man hält es fast nicht aus, alles im Ungefähren zu lassen. Und es gibt ja auch Fakten: Entweder es gab ein Laborleck in Wuhan oder nicht. Entweder Jesus ist am 25. Dezember geboren worden oder nicht. Was kann man wissen? Persönlich nachforschen können wir da oft nicht. Welche Konsequenzen hat es, wenn wir uns für «Entweder» oder für «Oder» entscheiden?
Und dann sind eben immer auch die Überlagerungen möglich, die eine eindeutige Schlussfolgerung erschweren: Dass es am 25. Dezember schon länger ein Sonnenwendefest gegeben hat, muss nicht heissen, dass Jesus nicht auch an diesem Tag geboren wurde. Dass viele Regierungen nicht immer überzeugend kommunizieren in der Corona-Zeit, muss nicht heissen, dass sie nie recht haben. Dass der Samichlaus die Päckchen hätte bringen sollen, muss nicht heissen, dass die Kinder vom Christkind nichts mehr bekommen. Und dann ist man doch manchmal herausgefordert, eine Entweder-oder-Entscheidung zu treffen: Entweder man impft – oder man impft nicht. Ich glaube, es gibt viele Menschen, die ihre Entscheidungen hier ohne absolute Klarheit getroffen haben, und damit auch ohne Urteil über jene, die sich anders entscheiden.
Das ist mein Wunsch für 2022: Dass wir als Gesellschaft, und gerne auch Gemeinschaft, wieder ein bisschen besser darin werden, zu sagen: Vielleicht, vielleicht nicht, vielleicht sowohl als auch, und eigentlich wissen wir es einfach (noch) nicht; unterdessen lasst uns nachfragen, wo wir können, und in alle Richtungen aufmerksam bleiben – und freundlich miteinander.
CHRISTOPH TRUMMER