NACHHALTIG – Unterschiedliche Wertschätzung von Wald und Acker

  14.01.2022 Kolumne

Unterschiedliche Wertschätzung von Wald und Acker

In meiner Oktober-Kolumne legte ich den Fokus auf den Einsatz von Brennholz als Beitrag zum Klimaschutz und als wirtschaftlicher Anteil an den Unterhalt von Schutzwäldern. Etwas provokativ relativierte ich den Wert der Bäume, die dem Schnitzelplatz im Wengmattiwald dafür weichen mussten, und stellte grundsätzlich den Wert von Waldfläche infrage. Denn es ist klar: entweder opfern wir Wald oder Wiesland für diesen Lagerplatz. 1902 wurde das bis heute gültige Waldgesetz erlassen, mit den Grundsätzen, die Waldfläche in der Schweiz bei Rodungen vollständig durch die Ersatzaufforstungspflicht zu schützen, aber auch mit wenigen Ausnahmen die Weidewirtschaft aus dem Wald zu verbannen. Daraus ergab sich eine scharfe Grenzlinie Wald – Kulturland und auch faktisch ein Bauverbot im und nahe am Wald. Als Konsequenz daraus wurde der unersättliche Flächenbedarf für neue Siedlungen und Verkehrsflächen ausschliesslich mit landwirtschaftlichem Land gedeckt. Als Nebeneffekt verschwand die biodiversitätsreiche Übergangszone zwischen Wiesen und Wald. In den meisten Bergwäldern herrschen andere Prämissen vor: Schutz vor Lawinen, Murgängen und Steinschlag und kein Druck durch die Bauwirtschaft. Sie sind nicht Teil dieser Kolumne.
Heute liegt mein Fokus auf dem anderen Typ Boden, der noch nicht überbaut wurde: der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Auf ihr weiden Kühe, wird Gras gemäht, werden Kartoffeln geerntet und Äpfel gepflückt. Böden sind die Grundlage für unsere Lebensmittelproduktion. Und deshalb wage ich eine kritische Frage zu stellen, die in der Schweiz zu oft unterdrückt wird: Hat eine Hektare Kartoffelacker weniger Wert für uns als eine Hektare Nutzwald? Oder anders: Wieso akzeptieren wir eher den Verlust ackerfähiger Nutzfläche als dass wir den absoluten Schutz der Waldfläche in Frage stellen würden?
Seit Jahrzehnten verlieren wir in der Schweiz aus baulichen Gründen pro Tag eine Fläche von gut acht Fussballfeldern an landwirtschaftlicher Nutzfläche – trotz aller Gesetze und Reglemente, die diesen Boden schützen sollten. Der Hunger nach Gebäude- und Verkehrsflächen ist nicht kleiner geworden, und er ist offensichtlich mächtiger als der Hunger nach Nahrungsmitteln. Der Verlust an flachem Wiesland im Talboden des Frutiglandes im Zeitrahmen von nur einer Generation ist erschreckend – noch zwei Generationen und das Tal wird wohl vollständig überbaut sein.
Ein neuer Sachplan verpflichtet zwar alle Kantone, ein bestimmtes Kontingent ihrer besten Landwirtschaftsböden als sogenannte Fruchtfolgeflächen (FFF) vor Überbauung zu schützen. Aber es fehlt bei den Kantonen an einer einheitlichen Erfassung der Bodenqualität, und fruchtbare Wiesen, die heute nicht beackert werden, sind nicht erfasst. Der Plan lässt die Nutzung von Waldfläche anstelle der FFF weiterhin nicht zu – zu «heilig» ist der absolute Schutz von Wald. Und notabene ungeachtet seiner Qualität: Auch öde Fichten-Monokulturen geniessen diesen Schutz. «Ersatz-Ackerböden» mittels Aufwertung unfruchtbarer Böden für verlorene FFF zu schaffen, wird zwar in ein paar wenigen Kantonen angegangen, ist aber sehr aufwendig und teuer. Oder andersrum: Eine Wiederbewaldung lässt sich mit viel weniger Aufwand umsetzen, als aus einer Strassenfläche wieder einen tiefgründigen Wiesen- oder Ackerboden zu machen.
Waldböden sind nicht Ackerböden, und Waldstandorte eignen sich selten für den Ackerbau. Diese Ausscheidung begannen unsere intelligenten Vorfahren vor Hunderten von Jahren. Und mit den gerodeten Flächen geschah etwas, das den allermeisten Leuten nicht (mehr) bewusst ist: mit Kuhmist, hohem Wieslandanteil, dem Anbau von tiefwurzelnden Kulturpflanzen und mit Brachflächen vermehrten die Bauern den fruchtbaren Oberboden mit etwa 0,1 Prozent Humuszuwachs pro Jahr über viele Generationen. Und so wird klar, warum wir viel mehr Kartoffeln aus einem guten Ackerboden ziehen können als aus einem (gerodeten) Fichtenwaldboden. Der Verlust von traditionellen Ackerböden (respektive des vielen Schweisses, der darin steckt), ist für mich deshalb ungleich grösser als die gleiche Fläche wenig fruchtbaren Waldbodens.
So versuche ich als seltener Rufer im Wald auf diese unterschiedliche Wertwahrnehmung im landwirtschaftlichen Bodenschutz, im Walderhalt und in der Raumplanung hinzuweisen. Wieso gibt es kein «Rodungsverbot» für landwirtschaftliche Flächen? Wieso machen wir nur selten eine Güterabwägung zwischen diesen zwei Flächenarten? Berücksichtigen wir die Bedürfnisse kommender Generationen ausgewogen, oder gehen uns im Mittelland irgendwann die Äcker und Wiesen zugunsten des Freizeit- und Erholungsraums Wald aus? Und für Frutigen würde die Frage heissen: Wollen wir in Zukunft den Bau von Immobilien im Guferwald oder im Wengiwald zwischen Winklen und Wengi zulassen, um das wenige an flachem Grasland zu schützen?

SAMUEL B. MOSER

NACHHALTIG@BLUEWIN.CH


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