Pendeldiplomatie rund um die Kirchturm-Antenne
25.01.2022 Aeschi, AeschiriedAm vergangenen Freitag trafen sich Vertreter der Kirchgemeinde und des Mobilfunkanbieters vor Gericht. Doch die Gegner der 5G-Anlage müssen sich weiter in Geduld üben – geklärt wurde die Streitfrage vorerst nicht.
MARK POLLMEIER
Die Vorgeschichte ist schnell ...
Am vergangenen Freitag trafen sich Vertreter der Kirchgemeinde und des Mobilfunkanbieters vor Gericht. Doch die Gegner der 5G-Anlage müssen sich weiter in Geduld üben – geklärt wurde die Streitfrage vorerst nicht.
MARK POLLMEIER
Die Vorgeschichte ist schnell erzählt. Im Frühjahr 2018 schloss der Rat der Kirchgemeinde Aeschi-Krattigen einen mehrjährigen Vertrag mit Sunrise. Demnach sollte das Mobilfunkunternehmen den Turm der Kirche Aeschi als Standort für einen Handyantenne nutzen dürfen. Nachdem das Geschäft zunächst wenig Interesse hervorgerufen hatte, entwickelte sich in der zweiten Jahreshälfte 2018 bei einem Teil der Kirchgemeindemitglieder eine heftige Opposition gegen das Vorhaben. Als Reaktion auf diesen Widerstand kündigte der Kirchgemeinderat schliesslich den Vertrag mit dem Mobilfunkanbieter. Dieser focht die Kündigung an und klagte dagegen. Nach einer zwischenzeitlichen Verzögerung traf man sich am vergangenen Freitag vor dem Regionalgericht Oberland in Thun.
Widerstand «nicht vorhersehbar»
An sich war der Fall klar. Die Kirchgemeinde hatte einen rechtsgültigen Vertrag abgeschlossen, dieser Sachverhalt war unbestritten. Für eine einseitige Kündigung brauchte es also triftige Gründe.
Die Kirchgemeinde, vor Gericht vertreten durch Ratspräsidentin Yvonne Pfister und einen Anwalt, brachte dafür im Wesentlichen zwei Argumente vor. Erstens stellte sie in Frage, dass ein Kirchturm überhaupt ein Geschäftsraum sein könne. Zweitens sei eine Fortführung des Vertrags unzumutbar, weil es in der Kirchgemeinde grossen Widerstand gegen die Antenne im Kirchturm gebe. Der Anwalt der Kirchgemeinde sprach in diesem Zusammenhang von einer Spaltung. Es habe Anfeindungen und Rücktritte aus dem Rat gegeben, Gemeindemitglieder würden sich auf der Strasse ausweichen, kurz: das eigentliche Leben der Kirchgemeinde sei vom Mobilfunkstreit völlig gelähmt. Weil aber der Rat diese heftige Entwicklung nicht habe vorhersehen können, müsse ihm zugestanden werden, den umstrittenen Vertrag aus wichtigem Grund ausserordentlich kündigen zu können. Die Klage sei deshalb abzuweisen.
Ein Kirchturm ist sehr wohl ein Raum
Die Klägerseite sah dies naturgemäss völlig anders. In einem längeren Exkurs führte ihr Rechtsanwalt aus, warum ein Kirchturm trotz seiner ungewöhnlichen Beschaffenheit sehr wohl ein Geschäftsraum sei. Das habe auch das Bundesgericht in einem ähnlich gelagerten Fall so bestätigt.
Dass es in der Kirchgemeinde Opposition gegen die Mobilfunkanlage gebe, habe für den Vertrag keine Bedeutung. Im Übrigen seien solche Widerstände keineswegs ungewöhnlich. Vergleichbare Fälle gebe es zuhauf, die Medien würden regelmässig darüber berichten. Der Kirchgemeinderat hätte die Entwicklung also vorhersehen können, so der Anwalt der Klägerseite. Im Übrigen: Wenn die Kirchgemeinde von Spaltung rede, gebe es offenkundig auch einen anderen Teil, der mit der Anlage im Turm keine Probleme habe.
Alles in allem sehe man keinen Grund, den rechtsgültig geschlossenen Vertrag aufzuheben. Es sei auch nicht die Aufgabe der Klägerin, nun einen Alternativstandort auf dem Gemeindegebiet zu suchen, auf den man ausweichen könnte.
Anfeindungen und Rücktritte
Die Kirchgemeinde betonte nach diesen Argumenten nochmals, dass man die Intensität der Debatte nicht habe erahnen können. Einerseits sei es nach der ersten Information über die geplante Antenne ruhig geblieben. Andererseits habe die Diskussion um 5G erst nach Vertragsabschluss an Fahrt aufgenommen. Der Anwalt der Kirchgemeinde erwähnte in diesem Zusammenhang auch, die neue Mobilfunktechnologie sei gesundheitlich umstritten, was von der Gegenseite zurückgewiesen wurde: Es gebe bislang keinen Nachweis, dass 5G für den Menschen schädlich sei – aber diese Frage sei auch nicht Gegenstand der Verhandlung.
Einigung schwer vorstellbar
Nach den Parteivorträgen waren die Standpunkte und Argumente geklärt. Es folgte die Vergleichsverhandlung, also der Versuch, den Rechtsstreit ohne Urteil beizulegen.
Insbesondere für die beklagte Kirchgemeinde wäre ein Vergleich wohl eine günstige Variante. Denn dass ihre Erfolgsaussichten nicht zum Besten stehen, hatte der erste Teil der Verhandlung bereits erahnen lassen. Die Klägerseite machte keine Anstalten, von ihren Forderungen abzuweichen und konnte ihre Position auch mit ähnlichen Rechtstreitigkeiten aus der Vergangenheit untermauern. So hatte das Bundesgericht bereits 2006 entschieden, dass der Widerstand gegen eine Mobilfunkantenne voraussehbar sei und deshalb keinen Grund für eine vorzeitige Vertragskündigung darstelle. Es war also fraglich, wie eine Einigung in diesem Fall aussehen sollte.
Erst einmal abwarten ...
Vergleichsverhandlungen ähneln ein wenig der Pendeldiplomatie. Nacheinander (durchaus auch mehrmals) werden die Kontrahenten einzeln in den Gerichtssaal gebeten, wo der Richter seine Einschätzung abgibt und die Möglichkeiten aufzeigt. Für Wartezeiten und für eigene Besprechungen stehen den Parteien vor dem Gerichtssaal separate Räume zur Verfügung. Die Öffentlichkeit, auch die Presse, ist von den eigentlichen Vergleichsverhandlungen ausgeschlossen.
Nach Abschluss der Verhandlungen wurden die Streitparteien wieder in den Saal gebeten, wo der Gerichtspräsident die getroffene Vereinbarung erläuterte: Das Verfahren wird bis auf Widerruf sistiert, aber längstens bis zum Vorliegen eines Baubewilligungsentscheids. Für den Fall, dass das Verfahren fortgeführt wird, wurde den Parteien ein schriftlicher Entscheid in Aussicht gestellt.
Solange also weder die Kirchgemeinde noch die Mobilfunkgesellschaft eine Fortführung des Verfahrens wünschen, ruht der Rechtsstreit – allerdings maximal so lange, bis das Baubewilligungsverfahren abgeschlossen ist. Auf die Baupublikation von Sunrise im Herbst 2019 hatte es zahlreiche Einsprachen gegeben, die vom Regierungsstatthalteramt jedoch abschlägig beurteilt worden waren. Dagegen gingen wiederum Beschwerden ein, weswegen das Verfahren noch hängig ist.
Eine kleine Chance besteht
Wie ist die vor Gericht getroffene Lösung einzuordnen? An der juristischen Ausgangslage hat die Vereinbarung nichts geändert. Das Mobilfunkunternehmen verliert dadurch nichts – bis zu einem Baubewilligungsentscheid könnte die geplante Antenne ohnehin nicht realisiert werden.
Die Kirchgemeinde hat mit der Vereinbarung im Wesentlichen Zeit gewonnen. Solange die Gegenseite die Vereinbarung nicht widerruft, passiert erst einmal nichts. Eine kleine Chance, ohne Schaden aus dem geschlossenen Vertrag herauszukommen, besteht allerdings – sollte die Baubewilligung final nicht erteilt werden, wäre die Situation eine völlig andere.
Von der Anfrage bis zum Gerichtsprozess
August 2018
Anfrage von Sunrise, den Turm der Kirche Aeschi als Standort einer Mobilfunkanlage nutzen zu können
21.11.2018
Information an der Kirchgemeindeversammlung (KGV) über die Anfrage von Sunrise
06.12.2018
Begehung, Vorabklärungen über die Machbarkeit
01.01.2019
Präsidiumswechsel, Präsident des Kirchgemeinderats ist nun Ralph Bauschman
17.01.2019
Besprechung mit Infraset GmbH (Planungsbüro für Infrastrukturanlagen), Behandlung des Geschäfts an der Ratssitzung
14.02.2019
Behandlung des Geschäfts an der Ratssitzung, Entscheid für den Mietvertrag
30.04.2019
Unterzeichnung des Mietvertrags
20.06.2019
Information über den Abschluss an der KGV
29.10.2019
Einreichung des Baugesuchs
28.11.2019
diverse Anträge an der KGV, u. a. über Regelementsänderungen (neu sollen z. B. alle Sachgeschäfte, von allgemeinem öffentlichem Interesse zwingend der KGV zum Entscheid vorgelegt werden); einzelne Gespräche mit Kritikern des Mietvertrags durch Ralph Bauschmann
10.06.2020
Aussprache der Kirchgemeinde mit Kritikern
11.06.2020
Ratsbeschluss über die Durchführung einer Konsultativabstimmung zur Mobilfunkfrage
18.06.2020
KGV: Antrag über die Auflösung des Mietvertrags
30.06.2020
Ralph Bauschman demissioniert als Präsident des Kirchgemeinderats; seither leitete Yvonne Pfister die Geschäfte der Kirchgemeinde (zunächst ad interim, später als Präsidentin)
17.08.2020
Ausserordentliche KGV; Beschluss, den Mietvertrag zu kündigen
Ende Oktober 2020
Vertragskündigung «aus wichtigem Grund» auf Ende April 2021
17.06.2021
Information an der KGV, dass Sunrise die Kündigung gerichtlich angefochten hat. Ein Schlichtungsversuch Anfang 2021 sei ergebnislos verlaufen. Mitte Oktober solle eine Gerichtsverhandlung vor dem Regionalgericht in Thun stattfinden.
25.10.2021
Information an der KGV, dass die Gerichtsverhandlung aus persönlichen Gründen der Gegenseite abgesagt wurde; ein neuer Termin sei für Mitte Januar 2022 angesetzt
21.01.2022
Gerichtsverhandlung über die Kündigung des Vertrags vor dem Regionalgericht in Thun
POL