IMMUNISIERUNGS- STATT IMPFZWANG
Zurzeit herrscht in unserem Land eine etwas gespenstische Aufbruchstimmung. Einerseits gehen die Infektionszahlen seit Anfang des Jahres durch die Decke. Andererseits scheinen die zuletzt gesunkenen Spitaleintritte sowie ...
IMMUNISIERUNGS- STATT IMPFZWANG
Zurzeit herrscht in unserem Land eine etwas gespenstische Aufbruchstimmung. Einerseits gehen die Infektionszahlen seit Anfang des Jahres durch die Decke. Andererseits scheinen die zuletzt gesunkenen Spitaleintritte sowie die Aussicht, die Welle könnte bereits in ein bis zwei Wochen gebrochen sein, auszureichen, um eine erneute Phase der Lockerungen einzuläuten. Zwar will der Bundesrat die Massnahmen bis Ende März verlängern. Die Isolations- und Quarantänedauer hingegen verkürzt er, um die Wirtschaft zu entlasten – ein Schritt, den selbst die sonst eher vorsichtige wissenschaftliche Taskforce für vertretbar hält. Einmal mehr tritt die Schweiz dem Vorurteil entschieden entgegen, sie sei zurückhaltend und risikoscheu. In Sachen Pandemie sind wir ziemliche Draufgänger.
Tatsächlich mehren sich die Anzeichen, dass Omikron uns weniger stark zusetzen wird als befürchtet. Die Verläufe scheinen milder zu sein als bei Delta. Die kürzere Zeitspanne zwischen Infektion und Ausbruch der Krankheit macht die Zukunft zudem etwas berechenbarer. Solche Nachrichten nähren unseren Optimismus, der rasch in Aktivismus umschlägt. Bereits werden Rufe laut, die Quarantäne sei ganz abzuschaffen. Die Hoffnung, die Pandemie sei bald ganz überwunden, grassiert derzeit ähnlich stark wie das Virus selbst.
In der Not das Gute zu sehen, ist wohl eine Tugend. Problematisch wird es dann, wenn fragile Hoffnungen das Fundament einer scheinbaren Gewissheit bilden, die dann in Ungeduld, Frust und Wut mündet, wenn sie sich nicht bewahrheitet.
Der Bundesrat hat zurzeit kaum Grund, solchen Tendenzen entgegenzuwirken. Da er zwischen geimpft und genesen keinen Unterschied macht, erreicht er sein Ziel, die Bevölkerung zu immunisieren, gerade auf äusserst effektive und elegante Weise. Dass dieser Kurs kaum lautstarken Protest auslöst, ist dabei gar nicht so selbstverständlich. Schliesslich drangsaliert das Virus unseren freien Willen erheblich stärker als eine Massnahme, die Geimpfte im öffentlichen Leben bevorzugt – selbst wenn uns die Krankheit offiziell nur noch fünf Tage in die eigenen vier Wände verbannt. JULIAN ZAHND
J.ZAHND@FRUTIGLAENDER.CH