Verborgene Heimatgefühle
28.01.2022 FrutigenKurzen, Pieren, Büschlen, Willen, Kernen … Familiennamen mit Endung auf «-en» begegnet man vorwiegend im westlichen Berner Oberland. Doch auch der Winterthurer Christian Jungen, künstlerischer Leiter des Zurich Film Festivals, hat einen solchen Namen. Was verbindet ihn mit ...
Kurzen, Pieren, Büschlen, Willen, Kernen … Familiennamen mit Endung auf «-en» begegnet man vorwiegend im westlichen Berner Oberland. Doch auch der Winterthurer Christian Jungen, künstlerischer Leiter des Zurich Film Festivals, hat einen solchen Namen. Was verbindet ihn mit Frutigen?
TONI KOLLER
Nein, besonders eng ist Christian Jungens Beziehung zu Frutigen natürlich nicht. Doch er kennt die Geschichte seines Geschlechts: «Ursprünglich stammen wir aus dem Wallis, es gibt bei St. Niklaus sogar einen Weiler, der ‹Jungen› heisst. Dort gerieten die Jungen in Bedrängnis, weil sie reformiert waren; im 19. Jahrhundert sind sie deshalb ins Frutigland ausgewandert.» Schon seine Ahnen sind nach Winterthur gezogen, als Industriearbeiter bei Sulzer haben sie dort ein Auskommen gefunden. Also kein Aufwachsen mit Eltern, die Frutigdütsch sprachen – Christian Jungen (48) ist ganz und gar Zürcher. Seine Wurzeln im Berner Oberland sind ihm dennoch nicht gleichgültig.
Vom Arbeiterkind zum Filmwissenschafter
Auch sein Vater war Arbeiter bei Sulzer, die Familie lebte in einfachen Verhältnissen, war von freikirchlichem Glauben geprägt – kein Sprungbrett für eine akademische Laufbahn. Doch ein pensionierter Lehrer aus der Nachbarschaft erkannte Christian Jungens Talente und überzeugte ihn, ans Gymnasium zu gehen. Um etwas Geld zu verdienen, übernahm der Mittelschüler einen Job an der Kasse eines Kinos. Es war der Einstieg in Jungens Leidenschaft für den Film: Er begann, Filmkritiken für die Schülerzeitung zu verfassen, später für die Winterthurer Lokalpresse – und promovierte schliesslich in Filmwissenschaften an der Universität Zürich.
Die Rolle der Religion
Vor vielen Jahren, während eines Studienaufenthalts in Italien, verliebte sich Christian Jungen in eine Italienerin. Aus der anvisierten Heirat wurde am Ende nichts – aber die Verbindung war eng genug gewesen, um ihn zum Übertritt in die katholische Kirche zu bewegen. Zurück in der Schweiz engagierte sich Jungen denn auch politisch in der CVP. «Heute nicht mehr», sagt er: «Jetzt nennt sich die Partei ja ‹Die Mitte›, das christliche C ist weg – also ohne mich.» Wenn auch weniger eifrig als seinerzeit: Katholik ist Jungen nach wie vor. «Die Konversion geschah damals übrigens nicht zur Freude meinen Eltern: Für Evangelikale ist der Katholizismus bekanntlich ein Reizwort …»
Rückblicke auf die Kindheit
Womit wir wieder im Frutigland wären. Dazu fällt Christian Jungen sofort das Stichwort «Bible belt» ein, die Vielzahl der Freikirchen – von denen es allerdings auch in der Gegend um Winterthur nicht wenige gibt. Jungens Erinnerungen an Frutigen sind ohnehin anderer Art: «Meine Eltern waren sehr stolz auf ihren Heimatort. Deshalb verbrachte unsere Familie oft Skiferien in der Gegend, wir wohnten jeweils in Kandergrund oder Adelboden. Ich war als Bub ein ziemlich verwegener Skifahrer! Mehrfach war ich auch im Ferienlager im Adelbodner Heilsarmee-Haus im Stigelschwand.»
Schreiben über Kultur bei der NZZ
Verwandte oder Bekannte hat Christian Jungen keine im Frutigland. Es sind vor allem die Reminiszenzen an die Jugendzeit, die ihn mit seiner Heimatgegend verbinden. Erinnerungen, die fortleben in dieser nahen und doch so weit entfernten Stadt namens Zürich. Hier, wo er sich nicht wie im Frutigerdialekt «Junge» nennt, wo man «Jungen» mit Schluss-N ausspricht und manche meinen, der Familienname stamme aus Deutschland – hier in Zürich wirkte er nach dem Studium über Jahre als Filmjournalist und betätigte sich anderweitig in der Filmbranche. 2009 trat er in den Dienst der «NZZ am Sonntag» und wurde Chef von deren Kulturredaktion. Nicht, dass ihm dies jemals verleidet wäre – «auch wenn mich das Schielen auf Klicks, auf maximale Leserzahlen statt auf maximale Qualität auch im Kulturjournalismus zunehmend nervte.»
Festivaldompteur und Manager
So oder so: Jungen zögerte keinen Moment, als ihm im Sommer 2018 die Stelle des Artistic Directors beim Zurich Film Festival angeboten wurde. Das Festival ist Teil der NZZ-Unternehmensgruppe und gehört zu den bedeutendsten seiner Art. Es bietet seinem künstlerischen Leiter – nebst glamourösen Auftritten mit den Stars der Filmszene
– «viele Herausforderungen unternehmerischer Art, denn der Event will alljährlich neu finanziert sein, da stehe ich mit in der Verantwortung. Das gefällt mir ebenso wie das Selektionieren der gezeigten Filme.»
Und was bleibt für den Heimatort? «Dieser Kontakt mit dem ‹Frutigländer› hat bei mir einen guten Plan geweckt», schmunzelt Christian Jungen: «Ich werde mit meiner Frau und unserer siebenjährigen Tochter nach Frutigen fahren, um ihnen endlich einmal den Ort meiner Wurzeln zu zeigen!»